Den schnapp ich mir Roman
plötzlich die Knie. Sie merkte erst jetzt, wie lange sie dort neben Clemmie gehockt hatte. Sie rief Henny, die sofort besorgt nach oben gelaufen kam. Tessa erklärte ihr, dass Clemmie völlig überfordert und seelisch erschöpft sei und jemanden brauche, der sich um sie kümmere. Sie habe gerade etwas sehr Wichtiges zu tun.
Wie nebenbei bemerkte Tessa noch, dass Henny einen neuen Pullover in Zartblau trug, der ihre Augenfarbe hübsch zur Geltung brachte und ihr gut zu den rosigen Wangen stand. Henny bemühte sich um Clemmie wie eine Glucke um ein Küken. Tessa lief in Wills Büro. Glücklicherweise war er nirgends zu sehen, daher schaltete sie mit klopfendem Herzen seinen Computer an und ging ins Internet.
Sie durchforstete mehrere amerikanische Websites und fand schließlich, was sie gesucht hatte. Vor vielen Jahren hatte sich in Texas ein tragischer Unfall ereignet. Eine Fußgängerin war von einem außer Kontrolle geratenen
Auto getötet worden. Das Opfer war eine junge Mutter von vierundzwanzig mit drei kleinen Kindern, die Fahrerin ein Teenager namens Bobby-Sue Winterbottom. Tessas Mund war vom Adrenalin, das durch ihren Körper raste, völlig ausgetrocknet. Bobby-Sue wurde zwar nicht als psychisch labil bezeichnet, sondern eher als tragisches Opfer von negativen Umständen. Allerdings musste sie schwer für diesen Fehler büßen. Bei der Verhandlung hatte Bobby-Sue beschämt und »sichtlich erschüttert« gewirkt über das Leid, das sie der Familie des Opfers zugefügt hatte. Man hatte die »besonderen Umstände« des Unfalls (die aber nicht weiter erwähnt wurden) und Bobby-Sues »überzeugende Reue« in Betracht gezogen und sie zu einem Jahr Gefängnis wegen Totschlags verurteilt. Ein paar grobkörnige Fotos zeigten ein unsicheres junges Mädchen mit schiefen Zähnen und Kraushaar. Ihre traurigen Augen sprachen Bände darüber, wie sehr sie das Ganze mitgenommen hatte. Trotz des stark veränderten Aussehens hatten ihre Augen etwas unmittelbar Vertrautes.
»Jesus, Clemmie«, sagte Tessa laut. Kein Wunder, dass sie sich völlig verändert hatte. Wie sehr hatte sie wohl darunter gelitten! Tessa fragte sich, was es mit den »besonderen Umständen« auf sich hatte, die man bei der Verhandlung berücksichtigt hatte. Es müssen wohl schwerwiegende Fakten gewesen sein, sonst wäre das Urteil nicht so milde ausgefallen. Aber darüber hinaus war im Internet nichts weiter zu finden.
Warum nur war Clemmie nach diesem Vorfall Schauspielerin geworden? Tessa konnte es nicht begreifen. Das war doch eine Karriere, die einen ins Rampenlicht brachte, eine Karriere, bei der sie ständig befürchten musste, entdeckt zu werden. Wie viele kosmetische Operationen hatte Clemmie wohl hinter sich? Wie hatte sie sich das überhaupt leisten können? Einige Veränderungen waren einfach
vorzunehmen. Das blonde Kraushaar zum Beispiel war nun dunkelbraun und glatt, die schiefen Zähne waren gerichtet und schneeweiß. Aber nicht bloß die Frisur und die Zähne waren verändert, jeder Aspekt von Clemmies Zügen schien anders: ihre Nase, ihr Kinn, die Brauen – alles. Selbst die Form ihrer Augen – sie waren jetzt mandelförmig und nicht mehr rund.
Tessa empfand plötzlich großen Respekt vor Clemmie und spürte eine Entschiedenheit in ihr, die sie bisher nicht bei ihr vermutet hatte. Hinter dem einschmeichelnden Texas-Nölen und den makellosen Manieren verbarg sich gnadenloser Ehrgeiz und die Bereitschaft, alles zu tun, um das alte Ich zu vergessen und eine völlig neue Person zu schaffen. Tessa fragte sich, wie oft Clemmie sich wohl Vorwürfe machte, weil sie eine unschuldige Frau getötet hatte. Es war ein furchtbares Geheimnis, das sie hier hütete. Aber es war auch »bloß« ein Unfall gewesen, ein schrecklicher Unfall.
»Alles in Ordnung, Schatz?« Henny schob den Kopf durch die Tür. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Ja, gut. Alles in Ordnung … ich habe nur gerade eine ziemliche Überraschung erlebt …« Tessa schloss rasch die Website und löschte sie aus dem Speicher. Dann überlegte sie kurz, ob Rufus wohl über Clemmies Vergangenheit Bescheid wusste, vermutete es aber nicht. Sie wusste, dass Rufus Clemmie fallenlassen würde wie eine heiße Kartoffel, falls er glaubte, seine Karriere würde von einer so hässlichen Geschichte zerstört. »Ist Clemmie in Ordnung?«
»Ja, sie ist okay«, versicherte Henny fröhlich und blieb kurz vor dem Spiegel stehen, um ihr hochgestecktes Haar zu
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