Den Tod im Blick- Numbers 1
Nähe.
»Komm zurück!«, rief ich aufs Meer raus. »Komm zurück, verlass mich nicht!«
Karen und Val schauten sich um und waren sofort bei mir.
»Ist schon gut, Schatz«, sagte Karen. »Lass es heraus.«
»Aber ihr versteht nicht, ich war noch nicht so weit. Ich war noch nicht bereit, mich zu verabschieden.«
Val legte den Arm um mich. »Das wirst du nie sein. Es ist nie der richtige Zeitpunkt.«
Ich weinte jetzt richtig, die beiden auch. Wir legten die Arme umeinander – ein trauriges Dreieck; unsere Mäntel flatterten im Wind. Ich legte meinen Arm um Vals Taille, doch meine Faust war geschlossen. Ich hielt die letzten Reste von Spinne in meiner Hand.
Sicher.
FÜNF JAHRE SPÄTER
Ich bin nicht mehr an den Orten, wo Jugendliche abhängen. Ich glaub, man kann sagen, ich bin weitergezogen. Heute findest du mich auf Spielplätzen, am Strand, unten am Gemeindezentrum oder draußen vor der Schule, wo ich warte. Ist der normale Lauf der Dinge. Jugendliche wie ich werden zu Eltern wie ich. Und die Kinder werden zu Teenagern und dann selbst wieder Eltern. Und immer so weiter.
Ich bin nicht mehr so anders wie früher. Die ganze Zeit mit Spinne hat mich verändert, nicht nur bei den offensichtlichen Dingen – von wegen erwachsen werden, sich verlieben, Sex haben und so. Sie hat mir gezeigt, was ich vermisste, was mir fünfzehn Jahre lang fehlte: richtige Freunde, jemand, mit dem man lachen kann, lernen, Menschen zu vertrauen, sich ein bisschen zu öffnen. Sie hat meine ganze Sicht auf das Leben verändert – ich war so fertig wegen der Zahlen, dass ich mich davon in die totale Isolation hab treiben lassen, das seh ich inzwischen ein. Die Zahlen hatten mich so weit gebracht, dass ich aufhörte zu leben. Aber Spinne und all die andern – Britney, Karen, Anne, Val –, sie haben was für mich verändert, mich spüren lassen, dass ich das, was ich an Zeit hatte, vergeudete.
Ich wünschte, ich könnte dir erzählen, was ich Tolles aus meinem Leben gemacht hab – dass ich Hirnchirurgin oder Lehrerin oder irgendwas geworden bin –, aber das würdest du mir sowieso nicht glauben, oder? Ich denk, rückblickend hab ich bis jetzt zwei Dinge geschafft. Zum einen bin ich bei Karen geblieben und hab nach ihrem Schlaganfall für sie gesorgt. Ich wusste ja, dass sie nur noch drei Jahre zu leben hatte, also hätte ich eigentlich nicht überrascht sein dürfen.
Ich versuchte gerade zu klären, dass ich mein eigenes Reich bekam; genau genommen war ich in dem Moment, als mich das Krankenhaus anrief, in der Wohnung, die mir die Stadtverwaltung angeboten hatte. Karen war auf der Straße zusammengebrochen. Es war ein schwerer Schlaganfall, nach dem sie einseitig gelähmt blieb. Sprechen konnte sie auch nicht mehr – sie war schon noch klar im Kopf, aber Worte brachte sie nur unter Mühen raus. Dass ich für sie sorgen würde, wurde als gegeben hingenommen. Sie verlor die Zwillinge – der Sozialdienst fand ein anderes Zuhause für sie –, was ihr das Herz brach. Aber alle nahmen ganz selbstverständlich an, dass ich bei ihr bleiben und sie pflegen würde.
Es war hart, echt hart, auf Adam aufzupassen und gleichzeitig Karen anzuziehen, sie zu füttern und zum Klo zu bringen. Es war, als hätte ich zwei Kinder. Ich kann dir nicht sagen, wie oft ich drauf und dran war abzuhauen. Mehr als einmal hatte ich sogar schon meine Sachen gepackt. Aber am Ende konnte ich’s nicht. Ich wusste, es blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Außerdem hatte sie zu mir gestanden, als ich schwanger war, und danach geholfen, Adam großzuziehen. Sie hatte mich immer so unterstützt, mir gezeigt, wie ich mit ihm fertigwurde, und Abstand verschafft, wenn mir alles zu viel wurde. Ich fand, ich war ihr was schuldig.
Gegen Ende hatten wir ein paar echt schlimme Tage. Tatsache war: Auch wenn ich die Zahlen nicht mehr sah, konnte ich mich an sie erinnern. Sie verschwanden, als ich schwanger war – in der Zeit, als ich mal in der Psychiatrie steckte und mal nicht. Vollgedröhnt mit Tabletten, ruhiggestellt. Ich erinnere mich nicht genau, wann – aber eines Tages merkte ich, dass ich sie nicht mehr sah. Sie waren weg. Ich war traurig, etwas zu verlieren, das so lange ein Teil von mir gewesen war. Aber gleichzeitig war ich erleichtert. Es nahm mir etwas, wovor ich die ganze Zeit Angst hatte – den Moment, in dem ich meinem neugeborenen Kind in die Augen schauen musste und sein Todesdatum sah. An dem Tag merkte ich, dass ich der Zukunft entgegenblicken
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