Den Tod vor Augen - Numbers 2
Ich hole tief Luft, stehe auf und teste das Ganze unter dem Gewicht meines Körpers. Der Fuß schmerzt noch immer, aber längst nicht mehr so wie zuvor. Ja, so könnte es klappen.
Ich laufe los und es geht einigermaßen, also laufe ich schneller, beginne zu rennen, fort von dem Haus, in dem mein Dad aufgewachsen ist und wo auch eine Zeit lang mein Zuhause war. Es ist nichts mehr davon übrig, aber das berührt mich nicht, denn es sind Menschen, die ein Zuhause ausmachen, und die drei Menschen, die das könnten, sind nicht mehr da.
Doch ich werde sie finden. Ich werde sie finden, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
SARAH
Wir laufen durch die Stadt, doch das, was wir sehen, hat nichts mit London zu tun, jedenfalls nicht mit dem London, in dem ich aufgewachsen bin. Nichts ist mehr so, wie es sein sollte. Die Stadt hat sich extrem verändert. Überall hört man Auto-Alarmanlagen und Einbruchsicherungen und Sirenen, die kilometerweit weg sind, doch das Hintergrundsummen des Verkehrs ist nicht mehr da. Das Geräusch, mit dem du nachts schlafen gehst und morgens aufwachst, fehlt.
Mein Kopf spielt mir Streiche. Wenn wir irgendwo entlanggehen, sieht mein Hirn den Ort, wie er war, und ich fühle mich irgendwie völlig durchgeknallt, wenn sich Himmel zeigt, wo eigentlich ein Gebäude stehen müsste, wenn Wände fehlen oder der Gehweg unter Schutthaufen verschwunden ist. Wir stoßen auf zwei weitere Risse in der Straße. Einer verläuft quer über die Fahrbahn und bildet eine Kluft, die zu breit ist, um hinüberzuspringen, deshalb müssen wir zurück und uns einen neuen Weg suchen.
Überall, wo wir sind, schreien die Menschen um Hilfe. Gruppen scharen sich zusammen, wo es noch einen Grund zur Hoffnung gibt; Familien, Nachbarn und Fremde fassen mit an, um die zu retten, die überlebt haben. Sie bilden Ketten über die Trümmerberge hinweg, reichen Steine, Betonteile und Holzbalken von Hand zu Hand weiter. Polizei und Feuerwehr sind nirgends zu sehen, ganz zu schweigen vom Militär. Nicht hier, nicht in Kilburn. Wir werden alleingelassen. Sind auf uns selbst gestellt. Wenn wir nicht handeln, passiert nichts.
Ich möchte gern helfen, aber es ist jetzt schon fast acht Uhr und Mia das Einzige, was für mich zählt. Val und ich sind uns einig.
Das erste Feuer sehen wir ein paar Straßen entfernt. Die Wohnungen über einer Ladenreihe brennen, Flammen schlagen aus einem der Fenster in den Himmel. Zwei Gestalten stehen am obersten, gefangen vom Feuer darunter. Unten auf der Straße haben Leute Pappkisten aufgestapelt, alles, was sie finden können, und schreien: »Springt!«
Als wir hinsehen, steigen die Gestalten auf die Fensterbank und stürzen sich gemeinsam, Hand in Hand, ins Freie. Sie landen auf der Behelfsmatratze, doch das nützt nichts. Sie landen und bleiben liegen, die Hände ineinandergeschlungen, mit gebrochenem Hals. Wir bleiben länger stehen, als wir sollten, während die Umstehenden die Leichen mit den Kleidungsstücken bedecken, die eigentlich dazu gedacht waren, ihren Sturz aufzufangen. Dann wenden wir uns ab und gehen schweigend fort, betäubt vor Entsetzen.
Die Straßen sind voll. Jeder, der sich aus eigener Kraft befreien konnte, hat es getan und niemand geht wieder rein. Es gibt auch gar nicht mehr viel, wohin man »reingehen« könnte, und die Gebäude, die stehen geblieben sind, sehen nicht besonders vertrauenerweckend aus. Manche Leute laufen ziellos umher, andere sitzen am Straßenrand, den Kopf in die Hände gestützt. Die meisten schließen sich den Rettungsbemühungen an und gehen hin, wo sie gebraucht werden, reagieren auf die Rufe und Schreie ringsum.
Natürlich versucht nicht jeder zu helfen; manche helfen sich lieber selbst. Wir kommen an vielen Geschäften mit eingeschlagenen Fensterscheiben vorbei. Einen Teil davon mag die Natur zerstört haben, doch den Rest haben Brechstangen und Baseballschläger erledigt. Menschen gehen ein und aus, als ob Winterschlussverkauf wäre. Nur dass niemand bezahlt. Sie nehmen sich einfach alles.
Immer wieder schaue ich auf die Uhr. Wir haben erst ein paar Kilometer geschafft und es ist schon Viertel nach neun. Ich bleib wieder stehen.
»Val, das hat keinen Sinn. Wir schaffen es nicht rechtzeitig. Was sollen wir tun?«
»Willst du ohne mich weitergehen? Dann geht es sicher schneller.«
Genau das möchte ich, aber es kommt mir undankbar vor.
»Nicht wirklich«, sage ich. »Ich möchte hinkommen, aber ich will nicht allein sein.« Dann habe ich
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