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Denkanstöße 2013

Denkanstöße 2013

Titel: Denkanstöße 2013 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nelte
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sagte. Doch seitdem habe ich mich bei mehreren Gelegenheiten bei einer ziemlich komplizierten Lüge ertappt. Dabei habe ich auf einer bestimmten Ebene den Schluss gezogen, meine Mutter führe nach wie vor ein sehr reges geistiges Leben – das ich selbstverständlich nur mithilfe meiner Fähigkeit zur Mentalisierung wahrnehmen kann.
    Während der langen schlaflosen Nacht der Totenwache nahm mein Bewusstsein beispielsweise die ruhigen Harmonien der Klangspiele vor ihrem Schlafzimmerfenster wahr. Es wäre gelogen, wenn ich sagte, mein erster Gedanke sei nicht gewesen, dass sie versuchte, mir durch diese liebenswerten Installationen eine sanfte Botschaft zu übermitteln. Ich glaubte nicht, dass es so sei; ich wusste sehr gut, dass sich wahrscheinlich in diesem Augenblick, viele Meilen entfernt, der Assistent eines Leichenbeschauers im Arztkittel um ihren Körper kümmerte. Doch in diesem Moment waren meine Überzeugungen belanglos. Mein Gehirn umging sie heiter und wechselte in den Übersetzungsmodus: Sie sagt mir, dass alles in Ordnung ist .
    Bei dieser Art von Quasiglauben – ursprünglicher als eine voll ausgebildete Überzeugung oder gar eine Imagination – wird ein mentaler Zustand durch Einflüsse aus der Umgebung ausgelöst, was sehr reale Verhaltensweisen und emotionale Reaktionen hervorruft. Der Betreffende ist jedoch nicht überzeugt, dass der Auslöser eine wahre Tatsache wiedergibt. Anders gesagt, das Bewusstsein der Person wird irgendwie durch Hinweise aus der Umgebung getäuscht, die in der Welt unserer Vorfahren gewöhnlich mit adaptiven Reaktionen verknüpft gewesen wären. Der Oxforder Psychologe Ryan McKay und der Philosoph Daniel Dennett haben 2009 in ihrem Aufsatz in der Zeitschrift Behavioral and Brain Sciences ein besseres Beispiel für diesen Quasiglauben vorgestellt:
    Jemand, der auf der über den Grand Canyon ragenden Glasboden-Aussichtskanzel zittert (oder Schlimmeres), glaubt ebenso wenig wie ein Kinobesucher in einem Horrorfilm, dass er in Gefahr ist, doch sein Verhalten in diesem Augenblick zeigt, dass er in einem glaubensähnlichen Zustand ist, der sich erheblich auf das Verhalten auswirkt.
    Für meine Reaktion auf die Klangspiele gibt es sogar noch eine einfachere Erklärung als diesen Quasiglauben: Ein Teil von mir wollte, dass es ein Leben nach dem Tod gibt und dass wir sehen, was wir sehen wollen. Mein Wunsch, der Geist meiner Mutter möge doch irgendwie ihren körperlichen Tod überlebt haben, führte somit einfach zu einem Kurzschluss in der Rationalität meiner materialistischen Überzeugungen. Doch bloße Emotionalität ist in solchen Beispielen wahrscheinlich eine unangemessene Erklärung. Schließlich erleben viele Tiere beim Tod eines geliebten Partners emotionale Verzweiflung. Doch ohne die Fähigkeit zur Mentalisierung könnten Menschen die Toten nicht so wahrnehmen, als würden diese ihnen bewusst Telegramme in den vielfältigen Formen natürlicher Ereignisse senden – schließlich werden solche Botschaften wahrgenommen, als kämen sie direkt aus dem Bewusstsein der Geister. Meine Mama wollte mich wissen lassen, dass sie die Zollformalitäten im Himmel hinter sich gebracht hatte (oder so etwas in der Art).
    Es gibt noch eine weitere Erklärung für meine Reaktion auf die Klangspiele – sie wird von Kognitionswissenschaftlern wie Justin Barrett von der Universität Oxford und Stewart Guthrie von der Fordham-Universität bevorzugt. Demnach kommen solche psychischen Reaktionen zustande, weil unerwartete Bewegungen in der Umgebung einen »Mechanismus zur Entdeckung einer wirksamen Kraft« in Gang setzen. Demnach habe sich im Menschen aufgrund der ständig präsenten Bedrohung durch tierische (und menschliche) Raubtiere in der Zeit unserer Vorfahren eine Art hochempfindlicher Sensor entwickelt. Dieser habe erkannt, wenn Bewegungen oder Geräusche von einer gefährlichen Kreatur (oder einer anderen potenziell tödlichen Gefahr) ausgelöst wurden, anstatt anzunehmen, sie kämen von einer harmloseren Erscheinung (wie dem Wind). Oft liegen wir damit falsch – ich habe so manchen Gartenschlauch fälschlicherweise für eine Schlange gehalten –, doch aus der Sicht der Gene wäre ein Irrtum in der anderen Richtung ein weit teurerer Fehler, und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Wenn dann beispielsweise ein

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