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Denkanstöße 2013

Denkanstöße 2013

Titel: Denkanstöße 2013 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nelte
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Autist vielleicht beten, eine Frau zu bekommen, aber nicht imstande sein, einen symbolischen Hinweis in Form eines natürlichen Ereignisses zu erkennen, mit dem Gott sein Gebet »beantwortet« – etwa wenn der Ehemann einer Bekannten diese für eine andere Frau verlässt. Ein nicht autistischer religiöser Beobachter könnte das als Gottes »Wunsch« deuten, dass er mit seiner Bekannten zusammen sein soll. Er würde also meinen, Gott habe diese Folge gesellschaftlicher Ereignisse absichtsvoll arrangiert und damit auf sein Gebet reagiert; der Autist dagegen würde, weil seine Fähigkeit zur Mentalisierung beeinträchtigt ist, bei diesem Vorfall nicht so leicht auf Gottes Absichten schließen. Tatsächlich stellte ein Mann mit Asperger-Syndrom in einem Internetforum die Frage, ob andere mit dieser Störung so wie er »sich nicht bewusst seien, eine Rückmeldung von Gott zu erhalten«. Falls Gott sich in der subtilen Sprache natürlicher Ereignisse mitteilt, ist es kein Wunder, wenn Menschen innerhalb der Bandbreite autistischer Störungen so oft nicht imstande sind, seine Botschaften zu begreifen.
    Das klinische Gegenstück des Autismus ist die paranoide Schizophrenie. Der Ausdruck »paranoid« bezeichnet die wahnhafte Komponente der Erkrankung und umreißt den Kern einer vollständig außer Kontrolle geratenen Mentalisierung. Betroffene sehen in fast allem persönliche Zeichen und Botschaften. Die in der Psychologie dieser Patienten mehr oder weniger endemische Erfahrung der Apophänie (in zufälligen oder bedeutungslosen Erscheinungen werden Muster und Beziehungen entdeckt) ist besonders aufschlussreich. So schreibt der Psychiater Jonathan Burns von der Universität Edinburgh:
    Patienten mit Schizophrenie suchen in den bizarren Phänomenen ihrer Psychosen nach Bedeutung. Ihre Halluzinationen sind von theistischen und philosophischen Erscheinungen bevölkert, während im Zentrum von Symptomen wie Gedankeneingebung, Vorstellungen von Zeichen und paranoiden Wahnideen die fiebrige Suche nach und die falsche Zuschreibung von Intentionalität liegen muss.
    Doch selbst kognitiv normalen, nicht schizophrenen Personen fällt es oft schwer, in natürlichem Geschehen keine verborgenen Botschaften zu sehen. An der menschlichen Psyche hat mich unter anderem stets fasziniert, dass wir so oft Entscheidungen treffen, ohne zuerst unser Wissen und unsere Überzeugungen zurate zu ziehen. Ein wissenschaftlich denkender und ansonsten rationaler Mensch kann mit absoluter Überzeugung sagen: »Ich bin nicht gläubig.« Doch unter den passenden Umständen kann es sein, dass Physiologie, Emotionen und sogar Verhalten dieser Individuen scheinbar das Gegenteil verkünden. Sehr oft sind uns diese Widersprüche in unserem Denken absolut nicht bewusst, oder zumindest werden sie selten beachtet. Doch hin und wieder kommt es zu einer Art Zusammenstoß zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen.
    Mir zum Beispiel wird immer wieder sehr eindringlich bewusst, dass meine Psyche ein Eigenleben entwickelt, wann immer ein paar zufällig zusammenkommende Ereignisse geeignet sind, Gedanken an meine verstorbene Mutter auszulösen. Ja, bildlich ausgedrückt, »lebt sie in meinem Herzen«. Doch was immer von Alice Bering zurückgeblieben sein mag – diese lächelnden, lachenden Augen, die sich so rasch mit aufquellenden riesigen Tränen füllten, ihr Sinn für Humor, die Finger, die sanft über den Haarschopf meines fiebrigen Kopfes strichen, als ich ein Junge war, die sorgenvolle Falte zwischen den Brauen als Zeichen unausgesprochener Verzweiflung, selbst der Krebs, der all das mit Gewalt fortriss –, all das hat sich in einem mit Satin ausgeschlagenen, zwei Meter unter der sonnengetränkten Erde Floridas begrabenen Sarg in einem überfüllten jüdischen Friedhof über zehn Jahre hinweg in Staub verwandelt.
    Inzwischen glaube ich – ohne jegliches Aufflackern agnostischen Zauderns –, dass alles, was von meiner Mutter noch existiert, als zerbrechliches Artefakt in diesem einsamen Grab eingeschlossen ist. Außerdem glaube ich, dass ihr mentales Leben vor meinen Augen an einem grimmigen Januarabend 2001 in einem großen, atemlosen Seufzer zu Ende ging – »wie die geringe Asche eines beim Waldbrand verbrannten Schmetterlingsflügels«, wie Camus von seinem seit langer Zeit toten Vater

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