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Denkanstöße 2013

Denkanstöße 2013

Titel: Denkanstöße 2013 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nelte
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vorgetragen, autistische Persönlichkeiten besäßen im Vergleich zu uns möglicherweise ein überlegenes Verständnis für Trivialphysik, selbst wenn sie tendenziell große Schwierigkeiten im sozialen Bereich haben. Baron-Cohen zufolge ist diese »Trivialphysik unsere alltägliche Fähigkeit, das Verhalten unbelebter Gegenstände – in Form von Prinzipien, die sich auf Größe, Gewicht, Bewegung, physikalische Kausalität usw. beziehen – zu verstehen und vorherzusagen«. Kurz, Autisten befassen sich vorwiegend damit, wie die Dinge funktionieren, nicht warum . So stellen die Eltern vieler autistischer Kinder oft überrascht fest, dass ihre Söhne und Töchter sich zwanghaft für Maschinen und physikalische Systeme interessieren. Solche Kinder neigen dazu, sich nachdrücklich für Dinge zu begeistern, die uns anderen als äußerst ausgefallene Hobbys vorkommen dürften: Sie sammeln Lichtspektren, zerlegen methodisch alte Polaroid-Kameras und Fernbedienungen oder häufen enzyklopädisches Wissen über Eisenbahnlokomotiven des 19. Jahrhunderts an. Diese Neigung, sich auf oberflächliche Ursachen zu fixieren, lässt uns vielleicht besser verstehen, warum in Familien, in denen Autismus vererbt zu werden scheint, Berufe wie Ingenieur, Buchhalter und Physikwissenschaftler tendenziell merkwürdig überrepräsentiert sind.
    Es scheint, als würde diese Form der Erfahrung mit physikalischer Kausalität in manchen Fällen sehr praktisch auf die Lösung sozialer Probleme angewandt. Das heißt, in der realen Welt kommen viele Autisten sehr gut zurecht, wenn sie ihre verstärkten Kenntnisse oberflächlicher Verhaltensweisen nutzen und so nie wirklich über die verwirrenden mentalen Zustände nachdenken müssen, die hinter dem Handeln anderer Menschen stehen. Der Psychologe Digby Tantum von der Universität Sheffield bietet uns das faszinierende Beispiel einer Frau mit Asperger-Syndrom, die sich um den Zugang zu einem umlagerten Geldautomaten bemüht:
    Sie hatte beobachtet, dass Menschen, die sich um etwas anstellen, einen gewissen Abstand zum Vordermann lassen, und auch, dass diese Lücke erheblich größer ist, wenn Männer hinter Frauen stehen. Dieses Wissen nutzte sie, um sich vorzudrängen: Sie suchte nach entsprechenden Konstellationen und drängte sich hinter die vorderste Frau in der Schlange, hinter der ein Mann stand.
    Die Frau wollte erfahren, wie die Leute sich üblicherweise in dieser speziellen sozialen Situation verhalten, nicht aber deren Beweggründe – das prägte ihr Verständnis dafür, wie die Leute funktionieren. Nur weil sie einschätzen lernte und ein außergewöhnliches Gespür dafür entwickelte, wie Routineabläufe und konventionelle gesellschaftliche Regeln sich mit dem sichtbaren Verhalten der Menschen überschneiden, konnte sie in ein soziales Umfeld eintreten. In diesem besonderen Beispiel war das allerdings unangemessen – sie konnte aber nach wie vor nicht begreifen, warum die Leute, die hinter ihr geduldig in der Schlange warteten, deshalb regelmäßig so wütend wurden.
    Mehrere autobiografische Berichte liefern faszinierende Einblicke darüber, wie Autisten Gott sehen. Nun läuft das Nachdenken über Gott im Grunde darauf hinaus, dass wir uns mittels unserer evolutionär entstandenen Mentalisierung Gedanken über Gottes mentale Zustände machen. Insofern ist es wohl keine große Überraschung, dass diese Berichte eine ganz andere Art von Gott wiederzugeben scheinen als die übliche sentimentale Version, die den meisten von uns vertrauter ist. So schreibt die autistische Wissenschaftlerin und Autorin Temple Grandin in ihrem Buch Thinking in Pictures: And Other Reports from My Life with Autism (1996) über ihren lebenslangen Kampf um ihren Glauben an Gott:
    Es liegt außerhalb meines Begriffsvermögens, etwas allein aufgrund des Glaubens zu akzeptieren, weil mein Denken von Logik anstelle von Emotionen gelenkt wird.
    In der Highschool kam ich zu dem Schluss, Gott sei eine ordnende Kraft, die sich in allen Dingen befinde. Ich fand die Vorstellung, das Universum werde immer ungeordneter, zutiefst verstörend.
    In der Natur sind Teilchen mit Millionen anderer Teilchen verschränkt, die alle miteinander wechselwirken. Man könnte spekulieren und sagen, diese Teilchen könnten für das Universum eine Art

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