Denkanstöße 2013
Bewusstsein bilden. Das ist meine aktuelle Vorstellung von Gott.
Aus Edgar Schneiders Buch Discovering My Autism (1999) stammt ein weiteres Beispiel. In Kapiteln, die seinem religiösen Glauben gewidmet sind, schreibt der autistische Mathematiker und Computerprogrammierer:
Mein Glaube an die Existenz einer höchsten Intelligenz (oder, wenn man so will, eines Gottes) beruht auf wissenschaftlichen Faktoren.
Explizit ist darauf hinzuweisen, dass keine dieser [religiösen Ãberzeugungen] irgendwie emotional unterlegt, sondern vollkommen intellektueller Natur ist.
Für mich ist, soweit es um die Zugehörigkeit zu einer Religion (oder jeder anderen Art von Ideologie) geht, intellektuelle Ãberzeugung eine Bedingung, die Mathematiker »sowohl notwendig als auch hinreichend« nennen. Mein religiöser Glaube, könnte ich vermutlich sagen, ist kein Geschenk Gottes, wie so viele Menschen es ausdrücken; es ist ein Geschenk, das ich mir selbst gemacht habe. In diesem Zusammenhang habe ich nie das emotionale Hochgefühl erfahren, das Menschen empfinden müssen, wenn sie ein »religiöses Erlebnis« haben. Dies ist auch dann der Fall, wenn ich die Sakramente empfange. Das Einzige, was mich zutiefst bewegt hat, ist die Vernünftigkeit von alledem.
Solche Schilderungen vermitteln einem unvermeidlich den klaren Eindruck, dass der Theismus von Autisten sich in gewisser Weise von der Alltagsversion unterscheidet. Dabei ist die autistische Religion alles andere als theologisch unterbelichtet. Im Gegenteil, die »religiösen Ansichten« dieser Autoren sind auÃergewöhnlich. Als ich mich mit Schneider in einer öffentlichen Bibliothek traf, um mit ihm persönlich über seinen Glauben zu diskutieren, hatte er einen dickleibigen, selbst veröffentlichten Band unter dem Arm. Das mit komplizierten mathematischen Formeln durchsetzte Dokument zeigte seiner Ãberzeugung nach klar, wie Gott im Quantenuniversum am Werk war. (Möglicherweise ist es wirklich so, wie er sagt. Doch angesichts meiner eigenen beschämenden Unzulänglichkeit im Fach Physik war das Dokument für mich fast vollkommen unverständlich.)
Zumindest in den Autobiografien einzelner Autisten wird Gott, für die meisten der Eckstein religiöser Erfahrung, immer noch eher als ein Prinzip dargestellt und nicht so sehr als psychische Wesenheit. Für Autisten scheint Gott eine gesichtslose Kraft im Universum zu sein, die für die Struktur des Kosmos und deren Aufbau direkt verantwortlich ist â er arrangiert die Materie auf ordentliche Weise oder »behandelt« die Entropie â, oder er wird gleich auf die Logik kalter wissenschaftlicher Rationalität reduziert. Für Schneider ist der Katholizismus, statt der emotionalen Korrelate kirchlicher Rituale, die so häufig mit der Physiologie spiritueller Erweckungserlebnisse einhergehen (der Anthropologe Harvey Whitehouse von der Universität Oxford nennt das »sensorisches Heidentum«), mit seinen formalen, vorhersagbaren Abläufen und der Klarheit seiner Richtlinien eher ein angstreduzierendes Medium. Er gibt seine Anweisungen fast Schritt für Schritt und sagt den Autisten, wie sie sich in einer sehr bedrohlichen, verwirrenden sozialen Welt verhalten sollen, und vermittelt ihnen eine gewisse Kontrolle.
Es fällt auf, dass in den vorangehenden Berichten ein Gefühl für interpersonale Beziehungen zwischen dem Autisten und Gott fehlt. Es scheint fast, als würden die im Umgang mit anderen Menschen benutzten algorithmischen Strategien â wie jene der Dame am Geldautomaten â auch in die religiösen Ãberzeugungen der Autoren hineinspielen. Anstelle einer emotionalen Abhängigkeit oder einer reichen sozialen Beziehung zu Gott wird deduktive Logik angewandt; mit ihrer Hilfe errichten sie die Fundamente für das Verständnis der Existenz und erlegen einer chaotischen Welt Ordnung auf. Der Sinn für das Numinosum , das spirituelle »Andere«, das den religiösen Ãberzeugungen der meisten Menschen innewohnt, ist beim Autisten auffallend unterentwickelt.
All das läuft darauf hinaus, dass Gott für Autisten möglicherweise eher durch Verhalten als durch eine Psyche definiert ist. Falls das tatsächlich so ist, sollten Menschen mit Autismus weniger geneigt sein, Naturereignisse als Träger einer Art subtiler, verborgener Botschaft zu sehen. So könnte ein einsamer, allein lebender
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