Denkanstöße 2013
fatale Folgen hatte.
Von Weimar reiste Liszt zunächst nach München, wo Wagners Rheingold und Walküre aufgeführt wurden. Hier erreichte ihn die Schreckensnachricht, dass PreuÃen am 19. Juli 1870 Frankreich den Krieg erklärt hatte. In Frankreich wurde die Kriegserklärung vor dem Corps législatif von Liszts Schwiegersohn Ãmile Ollivier verkündet, der seit Januar französischer Ministerpräsident war. Cosima und Wagner dagegen versprühten in ihren Briefen und Tagebüchern unablässig Gift gegen »die übermütigen frevelhaften Franzosen« â diese »Fäulnis der Renaissance« â und feierten enthusiastisch jeden preuÃischen Sieg. Im November begann Wagner mit der Arbeit an einem satirischen Bühnenwerk Die Kapitulation : ein »Schwank im aristophanischen Stil«, der sich bei näherem Hinsehen als krudes Machwerk entpuppt, in dem die Franzosen auf üble Weise verhöhnt und verunglimpft wurden. Es war vielleicht das erste Mal, dass Liszt in einen solchen politischen Gewissenskonflikt geriet: Einerseits war er im Herzen und seiner Kultur nach weiterhin tief in Frankreich verwurzelt:
»Seit dem Tod meiner armen Mutter zieht mich nichts mehr nach Paris, wo es nichts für mich zu tun gibt. Das heiÃt freilich nicht, dass ich die groÃen und herrlichen Dinge, die es dort zu sehen, zu hören und zu bewundern gibt, nicht schätzen würde; ganz im Gegenteil: Ich bekräftige meine patriotische Leidenschaft für Paris â zumal für das kaiserliche Paris von heute â und würde lieber dort als irgendwo anders leben, wenn es mein Schicksal nicht anders geplant hätte.«
Andererseits hatte er in Deutschland eine neue, auch geistige Heimat gefunden. Hin und her gerissen zwischen seiner Liebe zu Frankreich und seiner Loyalität gegenüber Deutschland suchte Liszt in seiner eigentlichen, âºdritten Heimatâ¹ Ungarn Zuflucht und folgte einer Einladung seines alten Freundes, des Barons Antal Augusz, nach Szekszárd.
»Was ich seit einigen Wochen lese, macht mich stumm. [â¦] Jetzt müssen sich Franzosen und Deutsche gegenseitig hinmetzeln, weil ihre Regierungen danach streben, die Grenzen zu verrücken, und jede auf Kosten der anderen beansprucht, ein schwereres Gewicht in die europäische Waagschale zu werfen. Also vorwärts: die Deutschen auf Paris oder die Franzosen auf Berlin! â Aus einer solchen Katastrophe wird sich ohne Zweifel auch irgendeine groÃe Idee herauslösen, und man wird was weià ich für ein regulierendes Prinzip der modernen Staaten zum Vorschein kommen sehen. Aber die Philosophie der Geschichte ist noch heute eine sehr auf Vermutungen beruhende und ganz von Schrecknis umhüllte Wissenschaft.«
Der Krieg war schnell entschieden: Nach dem Sieg der PreuÃen bei Sedan am 1. September 1870 und der Kapitulation und Gefangennahme Napoleons III. war Frankreich geschlagen.
»Das Schicksal hat seinen Richterspruch gefällt über den Herrscher, den ich stets als den weisesten, geschicktesten und besten unserer Epoche bewundert habe. Wie es Voltaire vorhergesagt hat â das Jahrhundert der PreuÃen ist nun also doch gekommen!«
Die politischen Ereignisse haben zweifellos maÃgeblich dazu beigetragen, dass sich Liszts Patriotismus mehr denn je auf Ungarn richtete. Bis zum 16. November 1870 blieb er bei Baron Augusz in Szekszárd und ging von da nach Pest, wo er viele alte Kontakte auffrischte und neue knüpfte. Es ist bezeichnend, das DezsÅ Legánys Studie Ferenc Liszt and His Country sich auf die fünf Jahre von 1869 bis 1873 konzentriert, in denen sich diese nationale Verbundenheit am intensivsten manifestierte â von beiden Seiten: Auch Ungarn versuchte alles, seinen groÃen Komponisten heimzuholen. Er wurde eingeladen, am 16. Dezember 1870 das Festkonzert zu Beethovens 100. Geburtstag zu dirigieren (wo seine neue Kantate, Beethovens Neunte und das Violinkonzert, mit Eduard Reményi als Solisten, zur Aufführung kamen), wirkte in mehreren Benefizkonzerten und -matineen mit, komponierte für den Ungarischen Landes-Sängerbund das patriotische Lied der Begeisterung und leitete am 5. April 1871 im Pester Redoutensaal ein Konzert mit Werken ungarischer Komponisten: die Ouvertüre zu Csóbanc von Ferenc Erkel, die Ouvertüre zu Der Verräter von Félix Orczy, einen Hochzeitsmarsch von Sándor
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