Denkanstöße 2013
weinen!« Kurd von Schlözer, der in Rom engen Umgang mit Liszt hatte, hat einen merkwürdigen Ausspruch überliefert: »Mein Freund, glauben Sie mir, allen Jubel, alle Begeisterung würde ich hingeben, wenn ich nur einmal ein wirklich schöpferisches Werk hervorbringen könnte.« Mag sein, dass solche Selbst zweifel nur der düsteren Stimmung eines Augenblicks entsprangen â oder war es am Ende doch die (von Eitelkeit nicht freie) Selbst sicherheit , die Liszt den anderen vorspielte? »Lassen Sie mich Ihnen nochmals sagen, dass ich des Lebens unendlich müde bin; aber da ich nun einmal glaube, dass Gottes Fünftes Gebot âºDu sollst nicht töten!â¹ auch für Selbstmord gilt, lebe ich eben weiter.«
Das bedeutendste künstlerische Ereignis jener Jahre war zweifellos die Uraufführung des vollständigen Christus- Oratoriums am 29. Mai 1873 in der Weimarer Stadtkirche unter Liszts Leitung. Er hatte das nunmehr dreiteilige und 14-sätzige Werk im Laufe von zehn Jahren aus mehreren Einzelstücken kompiliert; das früheste â Nr. 5 (Die Seligkeiten)  â war bereits 1859 entstanden, noch ohne den Plan des späteren Oratorienkontextes; als Letztes hatte Liszt Ende der 1860er-Jahre die Nummern 8 (»Tu es Petrus«; Die Gründung der Kirche ) und 13 (den Osterhymnus »O filii et filiae« ) hinzugefügt. Das erklärt auch die disparaten Formen, Besetzungen und Dauern der verschiedenen Sätze und die durchaus nachvollziehbare Feststellung des Wiener Kritikers, dass das Werk »von einem Oratorium nur den Namen« habe. Gegenüber der Legende von der heiligen Elisabeth und den Symphonischen Dichtungen der Weimarer Jahre hatte sich sein Stil einerseits spürbar weiterentwickelt; andererseits konnte die Mixtur aus originalen gregorianischen Melodien (wie dem Rorate caeli desuper in Nr. 1 oder dem Stabat Mater in Nr. 12), Volksliedern (wie dem provenzalischen »Noël« De bon matin im »Dreikönigs-Marsch« Nr. 5), Programmmusik (wie der Sturmschilderung in Nr. 9 Das Wunder ) und hyperchromatischer »Zukunftsmusik« (wie in Nr. 11 »Tristis est anima mea« ) tatsächlich den Eindruck erwecken, »dass es nie einen Componisten gegeben hat, der weniger âºStilâ¹ gehabt hat als Liszt«. Kein Wunder, dass das Publikum einigermaÃen ratlos reagierte, als es nun das Opus als Ganzes zu hören bekam â allen voran Wagner und Cosima, die ihrem Vater einige Tage nach der Uraufführung einen ausführlichen Kommentar schickte: »Diejenigen, welche nicht eher zufrieden sind, als bis sie alles wohl gruppirt und betitelt haben, sie würden sich, glaube ich, bei näherer Einsicht der Dinge in einiger Verlegenheit befinden.« Die Allgemeine Musikalische Zeitung erwähnte die Uraufführung in einer gerade einmal dreizeiligen Notiz unter der Rubrik »Berichte, Nachrichten und Bemerkungen«.
Dass Liszt in diesen rastlosen Jahren seines »dreigeteilten Lebens« überhaupt Zeit zum Komponieren fand, ist erstaunlich; weniger dagegen, dass sich in den neuen Werken seine Stimmungslage widerspiegelte. Die Liedvertonung des Sonetts Tristesse von Alfred de Musset zum Beispiel entstand zwar am 28. Mai 1872 unter dem Eindruck der Nachricht vom Tod seiner groÃen Jugendliebe Caroline de Saint-Cricq (Madame dâArtigaux), doch die folgenden Verse lesen sich wie ein Kommentar zu seiner eigenen Befindlichkeit:
Tristesse
Trauer
Jâai perdu ma force et ma vie,
Et mes amis et ma gaîté;
Jâai perdu jusquâà la fierté
Qui faisait croire à mon génie.
Ich verlor die Kraft und das Leben,
meine Freunde, den frohen Sinn.
Selbst mein Stolz ist auf immer dahin,
der einzig mir noch Halt gegeben.
Quand jâai connu la Vérité,
Jâai cru que câétait une amie;
Quand je lâai comprise et sentie,
Jâen étais déjà dégoûté.
Da ich die Wahrheit zuerst erkannt,
gab ganz ich mein Herz ihr zu eigen,
da ich forschen wollte, in die Tiefe steigen,
hab ich schaudernd mich abgewandt.
Et pourtant elle est éternelle,
Et ceux qui se sont passés dâelle
Ici-bas ont tout ignoré.
Ach, und doch währt ewig ihr Walten,
und wer nicht treu zu ihr gehalten,
hat sein Erdendasein verneint.
Dieu parle, il faut quâon lui réponde.
â Le seul bien qui me reste au monde
Est dâavoir quelquefois
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