Denkanstöße 2013
dirigierte zweimal seine Missa coronationalis und kehrte am 17. Mai nach Rom zurück â erst wieder in das Kloster Santa Francesca Romana, dann (ab Oktober) für ganze fünf Monate in die Villa dâEste. Eine einzige kurze Reise führte ihn im September nach München, zur Uraufführung von Wagners Rheingold .
»Mehrere Leute haben mich sehr herzlich eingeladen, nach Paris zu kommen; ich habe aus den Ihnen bekannten Gründen abgelehnt. Es geht jetzt nicht mehr darum, mich zu produzieren, sondern nur um das fortgesetzte Komponieren in aller Ruhe und Freiheit des Geistes. Das zwingt mich zum Rückzug; keine Salons mehr, keine aufgeklappten Flügel, keine von den tausend Verpflichtungen, wie sie mir die groÃen Städte aufzwingen, in die ich mich allzu leicht locken lasse.«
Es waren vor allem zwei Werke, an denen Liszt damals arbeitete: zum einen war es eine groÃe Kantate Zur Säkularfeier Beethovens (nach einem Text von Adolf Stern), die am 29. Mai 1870 in Weimar in einem Festkonzert der Tonkünstler-Versammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins aufgeführt wurde; zum anderen beschäftigte ihn ein neues Oratorium, Die Legende vom heiligen Stanislaus. Ein polnischer Originaltext von Lucjan SiemieÅski war zunächst von Carolyne ins Französische, dann von Peter Cornelius ins Deutsche übertragen worden; einzelne Sätze (wie das »Interludium« Salve Polonia ) wurden zwar fertig, aber »Reisen, Kränklichkeit, vielleicht der Druck des Geheimnisses, lieÃen keine Stimmung zum Componiren aufkommen«. Das Stanislaus- Oratorium â eine Verherrlichung des polnischen Katholizismus, die Liszt wahrscheinlich auf Drängen der Fürstin in Angriff genommen hatte â ist eines der wenigen Fragmente, die er hinterlassen hat; anders als bei Mozart oder Schubert weist Liszts Åuvre fast nur Vollendetes auf â manches davon in verschiedenen Fassungen. Auch angesichts der Fülle an Werken könnte man daraus ableiten, dass ihm das Komponieren relativ leicht von der Hand ging, aber dieser Eindruck ist wohl trügerisch; eher war es eine Frage der Disziplin: Liszt stand meist morgens um fünf Uhr auf, besuchte die Messe und saà schon früh an seinem Schreibtisch, um zu arbeiten. Seine feine, gut lesbare Notenschrift verrät eher Sorgfalt als Impulsivität, ungeachtet der Streichungen und Korrekturen, die es in vielen seiner Manuskripte gibt. Er scheint eher reflexiv als intuitiv gearbeitet zu haben â zumindest ab dem Punkt, an dem er mit der Niederschrift eines Werkes begann. Der wilde, genialische Zug, wie er einen aus den Handschriften Beethovens anspringt, fehlt seinen Notenblättern â was notabene nichts über ihre künstlerische Substanz und Qualität aussagt. Zu bedenken ist auch, dass Liszt nur selten unter Zeitdruck arbeiten musste (auÃer dem, den er sich selbst auferlegte): Es gab kaum Auftragskompositionen, die zu einem bestimmten Termin fertig werden mussten; das Tagwerk des Komponierens verlief »in aller Ruhe und Freiheit des Geistes«.
Anfang April 1870 kam Liszt wieder in Weimar an und bezog seine Wohnung in der Hofgärtnerei, und bald darauf drängten sich wieder dreimal pro Woche â montags, mittwochs und freitags â zahlreiche Schülerinnen und Schüler in seinem Musikzimmer, in dem ein groÃer Bechstein-Flügel und ein Klavier standen. Morris Bagby, Amy Fay, Arthur Friedheim, August Göllerich, Carl Lachmund, Frederic Lamond, William Mason, Bettina Walker und viele andere haben ihre Erinnerungen an den Unterricht bei Liszt festgehalten, sodass man ziemlich genau weiÃ, nach welchen Ritualen er ablief: Jede und jeder legte die Noten des Werkes, das sie oder er gerade studierte, auf den Flügel und wartete, bis es gegen halb vier hieÃ: »Der Meister kommt!« Liszt begrüÃte die Runde, ging an den Flügel, suchte sich ein Werk heraus und bat die- oder denjenigen, die oder der es hingelegt hatte, an den Flügel, während er selbst am Klavier Platz nahm. Liszt hörte zu, kommentierte, kritisierte und bewies zumeist eine grenzenlose Toleranz selbst gegenüber jenen, die eigentlich nicht in diesen Kreis gehört hätten. Selten einmal wurde es ihm zu viel: »Was glauben Sie, wem Sie hier vorgespielt haben? Sie haben hier nichts verloren. Gehen Sie ans Konservatorium, da ist Ihr Platz!« Hans von Bülow (der Liszt
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