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Denkanstöße 2013

Denkanstöße 2013

Titel: Denkanstöße 2013 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nelte
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könnten … Der geübteste Leser könnte Briefe oder Texte nicht mit dieser Leichtigkeit entziffern, mit der er einen Notentext liest. Er erfasst die ganze Partitur mit einem Blick und setzt sie auf dem Klavier um. Dabei achtet er nicht einmal auf seine Hände, die sich doch genau so bewegen, als würde er sie im Blick haben.«
    Mehr als 400 Schülerinnen und Schüler sollen es gewesen sein, die Liszt im Laufe seines Lebens unterrichtet hat – davon den weitaus größten Teil während seiner späten Jahre in Weimar und Budapest –, und die Liszt-Schule gilt als eine der Säulen der modernen Pianistik. Aber war es überhaupt eine ›Schule‹? Wenn man die Aufnahmen hört, die Liszt-Schüler hinterlassen haben – Eugen d’Albert, Conrad Ansorge, Arthur Friedheim, Arthur de Greef, Frederic Lamond, Moritz Rosenthal, Emil von Sauer, Alexander Siloti, José Vianna da Motta oder József Weisz –, ergibt sich daraus kein wirklich einheitliches Bild. Soweit es die klangtechnischen Imponderabilien dieser Aufnahmen aus den 1910er-, 1920er-, und 1930er-Jahren zulassen, gibt es höchstens zwei, drei Aspekte, die sich vielleicht als Gemeinsamkeiten heraushören und definieren ließen: Ihr Spiel ist durchweg weniger brillant und (im landläufigen Sinne) virtuos, als man es vielleicht erwartet hätte – oft sogar deutlich langsamer als Aufnahmen derselben Stücke durch Vertreter der konkurrierenden Theodor-Leschetitzky-Schule (Ossip Gabrilowitsch, Arthur Schnabel, Ignaz Friedman, Benno Moiseiwitsch oder Alexander Brailowsky). Ein Zweites ist die klare, ein bisschen an das französische jeu perlé erinnernde Tongebung, ohne übertriebenen Gebrauch des Forte- Pedals; vor allem die Aufnahmen Emil von Sauers zeichnen hier ein exemplarisch anderes Liszt-Bild, als man es von modernen ›Tastenlöwen‹ gewohnt ist – etwa in den beiden Klavierkonzerten, die er im Dezember 1938, als damals schon 76-Jähriger, mit dem Pariser Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter der Leitung von Felix von Weingartner (einem weiteren Liszt-Schüler) für die Columbia eingespielt hat. Und schließlich gibt es – vor allem in den Chopin-Aufnahmen – eine souveräne Meisterschaft des Rubato- Spiels, die vielleicht nur aus einem so agogisch freien Spiel heraus entstehen konnte, wie es Liszt lehrte.
    Zudem muss man bei der Liszt-›Schule‹ ebenso zwischen den frühen und späten Schülerinnen und Schülern unterscheiden wie zwischen denen, die tatsächlich über einen längeren Zeitraum hinweg bei ihm Unterricht hatten, und jenen, die eher sporadisch in der Hofgärtnerei erschienen, um sich später mit dem (oft reichlich hoch gegriffenen) Titel eines ›Liszt-Schülers‹ zu schmücken. Zur ersten und wichtigsten Generation seiner Schüler gehörten vor allem Bronsart, Bülow, Klindworth und Tausig, von den späteren waren es vor allem d’Albert, Friedheim, Marie Jaëll, Lamond, Sophie Menter, Sauer, Sgambati, Alexander Siloti und Bernhard Stavenhagen, die als Liszt-Schülerinnen und -Schüler im engeren Sinne gelten dürfen. Einen Unterschied gab es auch zwischen dem – wenn man so will: privaten – Schülerkreis in Weimar und den offiziellen Studenten an der Budapester Musik-Akademie. Vor allem in Weimar war Liszts Umgang mit seinen Schülerinnen und Schülern oft so vertraut, familiär und fast distanzlos, dass manche Außenstehende (oder Neider?) sich darüber mokierten; der Meister »halte Hof«, hieß es, und seine Klasse sei im Grunde nichts als »ein armseliger Haufen von Sykophanten und Nichtskönnern«. Wenn man die Fotos betrachtet, die alljährlich während solcher Meisterklassen aufgenommen wurden und Liszt im Kreis seiner Adepten zeigen, hat man wirklich das Gefühl, ein alter, weiser »Guru« in Soutane sitze inmitten seiner Jünger. Die Distanzlosigkeit erstreckte sich auch auf die Zeit außerhalb der eigentlichen Klassen (bei denen immer eine Karaffe mit Cognac bereitstand und eine brennende Kerze, um Zigarren daran zu entzünden). Vor allem der Alkoholkonsum muss beträchtlich gewesen sein; manche Abende endeten in regelrechten Gelagen – was für diejenigen seiner Schüler, die ohnehin dafür anfällig waren (wie Friedheim oder Alfred Reisenauer),

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