Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
vor, für bessere Leistungen gibt es Prämien. Ist man einige Jahre hindurch
fleißig und zeigt ausreichende Begabung, hat man jetzt auch als Mädchen die Möglichkeit, das Abitur zu machen.
Edith Stein ist fleißig und strebsam, und doch entschließt sie sich 1906, bevor sie in die Oberstufe des Lyzeums aufgenommen
wird, die Schule zu verlassen und nach Hamburg in den Haushalt ihrer Schwester Else zu gehen. Sie selbst sagt später zu dieser
Entscheidung: »Zum Teil lag es wohl daran, dass mich mancherlei Fragen, vorallem weltanschauliche, zu beschäftigen begannen, von denen in der Schule wenig die Rede war.« 3 Hierin zeigt sich ein bereits jetzt, mit fünfzehn Jahren, stark ausgeprägter Charakterzug: der Wille zur geistigen Unabhängigkeit
und der Wunsch nachzudenken, um mit sich ins Reine zu kommen. In der Schule nimmt stures Auswendiglernen die meiste Zeit in
Anspruch, es muss gebüffelt werden. Doch für Menschen mit einem Sinn für Fragen, die über den reinen Lernstoff hinausgehen,
bietet die Schule nicht genügend Zeit und Raum. Edith Stein denkt zu dieser Zeit viel über den Glauben ihrer Familie nach.
Sie nimmt wahr, wie wenig echten Anteil ihre Geschwister an den religiösen Riten nehmen. Sich selbst bezeichnet sie in dieser
Zeit als Atheistin.
Edith Stein hat großes Glück mit ihrer Mutter, die sie nicht zwingt, in der Schule zu bleiben, und sie die Reise nach Hamburg
antreten lässt. Zehn Monate verbringt sie im Haus der Schwester und deren Mann, einem Arzt. Edith Stein darf nach Herzenslust
in den vielen Büchern lesen, die es in diesem Haushalt gibt. Religiöses Leben spielt in dieser Familie kaum eine Rolle, sodass
ihr Gast sich auch in dieser Beziehung frei fühlen kann. Nach den zehn Monaten kehrt Edith Stein nach Breslau zurück und bereitet
sich auf die höhere Schule vor. Sie muss hart arbeiten, freut sich aber, so richtig gefordert zu sein und zeigen zu können,
was in ihr steckt. Sie schafft die Aufnahmeprüfung, ist in der Klasse bald die Beste und besteht das Abitur glänzend. Der
Rektor der Schule hat für diese besondere Schülerin einen treffenden Spruch parat: »Schlag an den Stein, und Schätze springen
hervor.« 4
Neben der Schule pflegt Edith Stein noch andere Interessen: Sie besucht sehr gern das Theater und die Oper.Zu ihren Lieblingsopern gehört
Fidelio
von Beethoven. »Ein bevorstehender Theaterabend war mir ein leuchtender Stern, der allmählich näher kam. Ich zählte die Tage
und Stunden, die mich noch davon trennten.« 5
Nach dem Abitur besucht sie ihren Onkel David in Chemnitz, von Beruf Apotheker und innerhalb der Familie eine Respektsperson.
Er sähe es am liebsten, wenn alle seine Nichten Ärztinnen würden. Edith Stein zeigt aber natürlich auch hier, dass sie ihren
eigenen Kopf hat. Sie möchte unter allen Umständen Philosophie studieren, weiß jedoch auch, dass man mit diesem Fach nur eine
Universitätslaufbahn, und dies bedeutet die Habilitation, anstreben kann. Für Frauen ist es bislang aber nicht möglich, sich
zu habilitieren. Also bleibt die Philosophie zunächst Nebenfach, und Edith Stein wählt Germanistik und Geschichte mit dem
Ziel, Lehrerin zu werden. Erna hingegen erfüllt dem Onkel seinen Wunsch und studiert Medizin.
Germanistik und Geschichte interessieren Edith Stein zwar, doch im Grunde gilt ihre Leidenschaft der Philosophie – hier liegt
ein Feld vor ihr, auf dem sie experimentieren und zeigen kann, was in ihr steckt. Vom ersten Semester an belegt sie Vorlesungen
und Seminare in diesem Fach. Wie enorm ihr Arbeitspensum ist, wie viel an Vorbereitung und Hausarbeiten sie leistet, fällt
ihr kaum auf, denn es überwiegt die Dankbarkeit, überhaupt studieren zu dürfen.
Stein ist beliebt und hat viele Freundinnen und Freunde. Daneben hält sie engen Kontakt zu ihrer Familie. Eine gute Beziehung
besteht nach wie vor zu ihrer Schwester Erna, die mit dem Mediziner Hans Biberstein befreundet ist. Zusammen mit der Medizinerin
Lilli Platau und der Naturwissenschaftlerin Rose Guttmann unternimmt sieviele Wanderungen. Eine enge Freundschaft verbindet Stein auch mit der Protestantin Käthe Scholz, einer temperamentvollen
und lebenslustigen Frau. Die beiden diskutieren intensiv über weltanschauliche Fragen, wobei die konfessionelle Zugehörigkeit
keine Rolle spielt, dafür aber vor allem politische Aspekte besprochen werden. Käthe Scholz ist konservativer als Edith Stein,
die sich stärker für
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