Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Frauenfragen engagiert und Mitglied des »Preußischen Vereins für Frauenstimmrecht« wird. Im Zentrum stehen
Fragen wie die nach der Entscheidung der Frauen für Familie oder Beruf und der Förderung weiblicher Intelligenz. Den preußischen
Staat als solchen kritisiert Stein nicht und folgt hierbei der politischen Grundhaltung ihrer Eltern. Dem sehr stark ausgeprägten
Nationalismus, dem Käthe Scholz huldigt, steht sie allerdings kritisch gegenüber.
Intellektuell ist Edith Stein das Universitätsmilieu in Breslau bald zu eng. Ihr Denken will über das hinaus, was sie hier
lernen kann. Bei ihrer Arbeit stößt sie immer wieder auf einen Namen: Edmund Husserl. Dessen
Logische Untersuchungen
sind in der philosophischen Szene dieser Zeit in aller Munde. Ein Kommilitone erzählt Stein von Professor Husserl und der
philosophischen Richtung, die er begründet hat und »Phänomenologie« nennt. Außerdem hört sie von der Husserl-Schülerin Hedwig
Martius, die bereits ein hohes Ansehen in der Forschung genießt, ein Hinweis darauf, dass Husserl auch Frauen fördert, was
in Stein eine ungemeine innere Erregung hervorruft. Sie wittert die Chance ihres Lebens und hofft, endlich einen Lehrer gefunden
zu haben, mit dessen Hilfe sie einen entscheidenden Schritt im Denken tun kann.
Husserl lehrt in Göttingen, wohin es viele philosophiebegeisterteStudenten zieht. Was aber genau im Denken Husserls übt eine derartige Faszination aus? Seine Denkmaxime lautet: »Zu den Sachen
selbst.« Unterschiedlichste »Sachen«, die Husserl als »Phänomene« bezeichnet, nehmen wir wahr, sie gehören zu unserer Wirklichkeit.
Der Ausdruck »Phänomen« kommt vom griechischen Wort
phainomenon,
was wörtlich übersetzt »das Erscheinende« bedeutet. Um diese Phänomene geht es in Husserls Philosophie. Ihnen sollen wir uns
auf eine direkte Weise zuwenden, ohne vorgefasste Theorien oder Meinungen. Schließlich haben wir sowohl im Alltag wie auch
in der Wissenschaft ständig mit Phänomenen zu tun. Immer sind da Dinge, die wir wahrnehmen und die wir begreifen wollen. Die
Naturwissenschaften haben mit Naturphänomenen zu tun, die Psychologie beschäftigt sich mit seelischen Phänomenen und die Medizin
forscht über Krankheitsbilder. Wenn man im Alltag über einen anderen Menschen staunt, sagt man vielleicht zu ihm: »Du bist
schon ein Phänomen.« Ausdrücke wie »ein phänomenal gutes Essen« oder »eine phänomenal schwere Mathearbeit« zeigen, dass eine
bestimmte Sache dem, der damit zu tun hat, besonders nahegeht, ihm sehr stark bewusst wird. Darum geht es Edmund Husserl mit
seiner Phänomenologie, der Lehre von den Phänomenen.
Die nächste Frage ist die nach der Art und Weise, wie wir die Sachen
wahrnehmen.
Der Schwerpunkt liegt nun auf der Tätigkeit. Was uns selbstverständlich erscheint, stellt Husserl infrage. Selbstverständlich
haben wir ein Bewusstsein und selbstverständlich ist da die so genannte Außenwelt (die Objekte), die auf irgendeine Weise
in unserer bewussten Wahrnehmung (im Subjekt) auftritt. Vor allem im 19. Jahrhundert war man davon ausgegangen, dass Außenweltund Innenwelt streng voneinander unterschieden sind, dass aber alles, was wir wahrnehmen können, im Inneren des Bewusstseins
für uns da ist. Das menschliche Bewusstsein nimmt also eine Vorrangstellung ein.
Husserl versucht nun, den Phänomenen selbst eine größere Bedeutung einzuräumen, indem er sagt, dass das Bewusstsein immer
Bewusstsein
von etwas
ist. Das Bewusstsein ist nie leer, sondern immer gerichtet auf eine Sache. Husserl betont den Charakter des Gerichtetseins.
Innen- und Außenwelt sind also nicht zunächst getrennt, um dann in eine Beziehung zu treten, sondern Innen- und Außenwelt
stehen immer schon in einer Beziehung zueinander. Früher sprach man im philosophischen Fachjargon von der so genannten Subjekt-Objekt-Spaltung.
Genau diese Ansicht hinterfragt Husserl und kommt zu einer anderen Meinung. Für ihn existiert eine solche Subjekt-Objekt-Spaltung
gar nicht. Im Gerichtetsein des Bewusstseins ist es möglich, die Dinge so zu erkennen, wie sie sind, unabhängig von jeder
subjektiven Meinung. Husserl ist ein sehr exakter Denker und gerade dies gefällt seinen Schülern. Die Phänomenologen sind
Realisten und sie sind radikal. Es ist diese Art von Radikalität, die Edith Stein anspricht und die sie lange gesucht hat.
Im April 1913 reist Stein nach Göttingen. Sie findet zusammen mit der
Weitere Kostenlose Bücher