Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Franz Kafka stecken voller Reflexionen. Umgekehrt findet man in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, beispielsweise bei Martin Heidegger, Albert Camus oder Jean-Paul Sartre, unzählige Anspielungen auf die Literatur.
So weit wagt sich Günderrode also über die eigene Zeit hinaus.
Hätte sie nur ein wenig mehr Glück in ihrer Liebe zu Friedrich Creuzer! Oder muss man ganz anders fragen: Würde ein erfülltes
Liebesleben überhaupt zu ihr passen? Kann man sich Günderrode als Ehefrau vorstellen? Creuzer jedenfalls möchte sie am liebsten
mit irgendjemandem verheiratet sehen, damit das zermürbende Spiel ein Ende hätte. Günderrode dagegen hat phantastische Pläne:
Sie erwägt, mit dem Geliebten nach Alexandria zu fliehen oder sich als Mann zu verkleiden und mit ihm nach Russland zu gehen.
Völlig übersteigerte Phantasien, könnte man sagen, Wahnvorstellungen einer Verrückten. Günderrode jedoch ist nicht übergeschnappt,
sie hat lediglich die letzten Brücken zu der Realität, in der ihre Mitmenschen zumeist leben, abgebrochen. Sie richtet sich
mehr und mehr ein in dem Traum, der für sie auch ein Leben ist.
Es gibt nur eine einzige Freundin, der sie sich in den beiden Jahren der Liebe zu Friedrich Creuzer wirklich anvertraut: Susanne
von Heyden, der Stiefschwester von Lisette. Günderrode kennt sie zwar seit 1797, eine Freundschaft entwickelt sich aber erst
in ihren letzten beiden Lebensjahren. Susanne nimmt teil an Günderrodes philosophischen und dichterischen Arbeiten, außerdem
ist sie häufig eine Art Vermittlerin zwischen ihr und Creuzer. Sie wird um Rat gefragt, wenn es um die Vereinbarung eines
Treffens geht, und arrangiert heimliche Rendezvous. Dennoch ist Susannes Widerstand gegen gesellschaftlicheKonventionen gering. Sie ist der Meinung, Günderrode könne für Creuzer so etwas wie eine exotische Heimat sein.
Günderrode selbst ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihren Friedrich für sich zu haben, und der Vernunft, die ihr
eingibt, ihn wenigstens als Freund zu behalten. Im Frühjahr 1805 schildert sie ihm in einem Brief einen Traum, der sie in
der Nacht heimgesucht hat: »Ich habe diese Nacht einen wunderbaren Traum gehabt, den ich nicht vergessen kann, mir war, ich
läg zu Bette, ein Löwe lag zu meiner Rechten, eine Wölfin zur Linken und ein Bär mir zu Füßen, alle halb über mich her und
in tiefem Schlaf, da dachte ich, wenn diese Tiere erwachten, würden sie gegeneinander ergrimmen und sich und mich zerreißen,
es ward mir fürchterlich bange, und ich zog mich leise unter ihnen hervor und entrann.« 23
Vielleicht will dieser Traum der Träumenden ja sagen, dass ihr Inneres gespalten ist. Weil die beiden Persönlichkeitsanteile
schlafen, können sie momentan nicht streiten, sie könnten aber jederzeit mit ihrem Kampf beginnen. Günderrode schafft es,
zu verschwinden. Sie wartet nicht, bis die wilden Tiere sich und sie zerreißen. Ist es das Reich des Denkens und der Gedichte,
in das sie flüchtet? »Es gibt nur zwei Arten, recht zu leben irdisch, oder himmlisch; man kann der Welt dienen und nützen,
ein Amt führen, Geschäfte treiben, Kinder erziehen, dann lebt man irdisch. Oder man lebt himmlisch in der Betrachtung des
Ewigen, Unendlichen, im Streben nach ihm (eine Art Nonnenstand). Wer anders leben will als auf eine dieser beiden Arten, der
verdirbt.« 24
Günderrode entscheidet sich für das Streben nach dem Unendlichen, Friedrich Creuzer für die andere Seite. Erlässt Günderrode durch Susanne von Heyden schriftlich ausrichten, er beende hiermit die Beziehung. Günderrode fängt den Briefboten
ab, öffnet den Brief und verlässt bald darauf scheinbar froh gelaunt das Haus. Als sie bis zum Abend nicht zurückgekehrt ist,
geht man sie suchen. Man findet sie am Ufer des Rheins mit einem Dolch in der Brust.
Für Creuzer hat Günderrode einen Abschiedsbrief und ein Schnupftuch in ihrem Zimmerchen hinterlegt. Ob er diese Dinge erhalten
hat, weiß man nicht. Im Brief heißt es: »Ich sende Dir ein Schnupftuch, das für Dich von nicht geringerer Bedeutung sein soll
als das, welches Othello der Desdemona schenkte. Ich habe es lange, um es zu weihen, auf meinem Herzen getragen. Dann habe
ich mir die linke Brust gerade über dem Herzen aufgeritzt und die hervorgehenden Blutstropfen auf dem Tuch gesammelt. Siehe,
so konnte ich das Zarteste für Dich verletzen. Drücke es an Deine Lippen; es ist meines Herzens Blut! So geweiht
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