Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
zur Verfügung stellen
und macht einen Krankenpflegekurs. Sie erkrankt jedoch an einem Bronchialkatarrh und geht zurück nach Göttingen. Um sich nicht
ganz unnütz vorzukommen, beteiligt sie sich an Strickaktionen der Kommilitoninnen, obwohl sie keine große Begabung für Handarbeiten
hat. Man schickt das Gefertigte an die Studienfreunde im Feld. Husserl hält weiterhin Vorlesungen, und auch Edith Stein führt
ihr Studium fort.
Anfang 1915 macht sie ihr Staatsexamen mit Auszeichnung, doch zum Feiern bleibt keine Zeit. Bald schon meldet sie sich zum
Dienst in einem Lazarett in Mährisch-Weißkirchen, wo sie auch die Arbeit im Operationssaal nicht scheut.
Im Herbst kehrt Stein nach Breslau zur Familie zurück und bleibt dort einige Monate, bevor sie, wieder in Göttingen, erfährt,
dass Husserl einen Ruf nach Freiburg im Breisgau erhalten hat.
Edith Stein kann Husserl noch nicht folgen, weil in Breslau dringend Lehrerinnen gebraucht werden, eine Aufgabe, die Stein
annimmt, obwohl sie keinerlei schulpraktische Erfahrung hat. Nebenher arbeitet sie bis zurphysischen Erschöpfung an ihrer Dissertation, die immer umfangreicher wird. Um Ostern 1916 ist die Arbeit fertig.
Stein geht darin von der Tatsache aus, dass wir Menschen uns nie in einem Zustand reiner Ichhaftigkeit befinden, also nie
abstrakte Personen sind. Grundlegend wichtig ist die große Bedeutung, die sie dem Körper gibt, wenn es um die Charakterisierung
der Einfühlung geht. Der Körper ist kein Hinderungsgrund für eine Erkenntnis des anderen Menschen, im Gegenteil. Wenn zum
Beispiel jemand errötet, nehmen wir seine Scham wahr, wenn er die Faust ballt, sehen wir, dass er zornig ist. Einfühlung heißt
auch Wahrnehmung von Zeichen, die der Körper gibt. Dabei kann es natürlich vorkommen, dass ich diese Zeichen falsch interpretiere.
Eine Täuschung ist nie auszuschließen. Es kann sich bei der anderen Person durchaus auch um das eigene Ich handeln. Wenn ich
in meine eigene Vergangenheit zurückgehe, habe ich mich selbst quasi als andere Person vor Augen. Außerdem kann es vorkommen,
dass jemand anderer mich besser erkennt, als ich mich selbst wahrnehme. So kann es zum Beispiel sein, dass man einem anderen
etwas Gutes tut und dabei nicht bemerkt, dass es einem dabei auch darauf ankommt, gelobt zu werden.
Im dritten Teil der Dissertation wendet sich Stein der »Einfühlung geistiger Personen« zu. Sie hat dabei eine Grundlegung
der Geisteswissenschaften im Auge. Kritisch betrachtet sie die naturwissenschaftliche Methode, mit der man ihrer Meinung nach
Geistiges nicht erfassen kann. Übertragen auf die Geschichte heißt das, eine historische Figur kann uns nie über Daten und
Fakten wirklich nahekommen. Wir müssen uns in sie als Person einfühlen können. Schüler bemängeln ja oft, dass im Unterricht
dieFakten viel zu stark im Vordergrund stehen und eine lebendige Geschichte mit Menschen aus Fleisch und Blut nicht erfahrbar
wird. Genau hier setzt Stein an.
Ich und die anderen
, das ist das große Thema von Edith Steins Philosophie. Sie möchte philosophisch durchleuchten, was zwischen den Menschen
geschieht, indem sie das von Husserl Gelernte auf ihr Thema anwendet.
Zwischenmenschlichkeit
lautet das »Phänomen«, das sie interessiert und das sie in all seinen Facetten auffächert. So stellt sich zum Beispiel auch
zwischen mir und einer Figur, der ich in einem Buch begegne, eine Art »Zwischenmenschlichkeit« her, auch in sie fühle ich
mich ein.
Stein bereitet sich auf ihre mündliche Doktorprüfung vor und ist damit völlig ausgelastet. Husserl liest nun endlich ihre
Arbeit und weiß die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit ihres Denkens zu schätzen. Er merkt, dass er in Stein nicht nur eine
Anhängerin seiner Philosophie vor sich hat, sondern eine Studentin, die einen eigenen, eigenwilligen philosophischen Weg einschlägt.
Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, was es zu Anfang des 20. Jahrhunderts für eine Frau bedeutete, in ihrem Denken akzeptiert zu werden. Edith Stein hat großes Glück, dass Husserl in
diesem Punkt Toleranz zeigt.
Im Hause des Professors lernt Stein den jungen Martin Heidegger kennen. Dieser ist zwar auch mit der Phänomenologie verbunden,
gehört aber nicht zum engeren Kreis der Husserl-Schüler und es ergibt sich keine nähere Bekanntschaft.
Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass Husserl einen Assistenten sucht. Die Arbeitsweise des »Meisters«,
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