Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Freundin Rose Guttmann, die sie überreden konnte, ihr
Studium ebenfalls in Göttingen fortzusetzen, ein idyllisch gelegenes Zimmer. In der Nähe ist eine kleine Kirche, die dreimal
am Tag den Angelus läutet, Zeichen für eine gewisse Ordnung im Tagesablauf, die Edith Stein für ihre innere Ausgeglichenheit
braucht. Der Tag muss strukturiert sein, sonst verliert sie leicht den Halt.
Göttingen hat einen guten Ruf als Universitätsstadt. Hier lebten und arbeiteten viele bedeutende Gelehrte, überall in der
Stadt sind Gedenktafeln angebracht. Auch Bismarck hat hier studiert. Das Verhältnis zwischen Studenten und Professoren ist
streng geregelt, und zu einer Berühmtheit wie Edmund Husserl kann man nicht einfach so hingehen. Edith Stein sucht zuerst
den Privatdozenten Dr. Adolf Reinach auf, Husserls rechte Hand, der ihr einen Sprechstundentermin bei Husserl besorgt. Husserl fragt Fräulein Stein,
ob sie denn schon etwas von ihm kenne. Als sie ihm antwortet, sie habe den ganzen zweiten Band der
Logischen Untersuchungen
gelesen, ist der Herr Professor verblüfft und bezeichnet die immense Leseleistung als Heldentat: Edith Stein ist bei ihm aufgenommen.
Husserl ist nicht uneitel und fühlt sich geschmeichelt durch das Interesse und den Ehrgeiz dieser Studentin.
Husserl sperrt sich nicht gegenüber kritischen Fragen und Einwänden und steht im Ruf, ein dialogbereiter Lehrer zu sein. Allerdings
wissen seine Studentinnen und Studenten auch, dass sie selbst etwas bieten müssen. Der Professor hat einen hohen Anspruch
und setzt Kenntnisse voraus. Einführungen gibt er keine. Stein kann das nur recht sein. Sie hat eine Art Heimat für ihren
Geist gefunden und ist lernbegierig. Neben der Philosophie vernachlässigt sie das »Brotstudium« jedoch nicht, sondern hört
weiterhin auch Vorlesungen in Germanistik und Geschichte.
Stein besucht die philosophischen Vorlesungen und Seminare und geht zu den Treffen der »Philosophischen Gesellschaft«, die
1907 von Husserls Schülern gegründet worden ist. Auch in diesem Kreis hält Stein mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Da
ihre Antworten zeigen,wie gescheit sie ist, hat sie schnell Neider und vor allem Neiderinnen. So lädt man sie zu den privaten Treffen der Phänomenologen
nicht ein. Dabei könnte sie so vieles beisteuern. Das Konkurrenzdenken, besonders unter den Frauen in diesem Kreis, ist immens
und Stein leidet darunter. Mit der Zeit findet sie jedoch unter den Meisterschülern des Professors Freunde. Einer von ihnen
ist der Pole Roman Ingarden, der sich jederzeit für sie einsetzen wird, auch in schwierigen Zeiten.
Edith Stein ist eigentlich nur für das Sommersemester 1913 nach Göttingen gekommen. Nun merkt sie, dass sie nicht mehr zurück
nach Breslau kann. Sie entschließt sich, bei Husserl zu promovieren, falls er sie nimmt. Ein Thema hat sie sich bereits überlegt:
»Darum war ich nicht in Verlegenheit. In seinem Kolleg über Natur und Geist hatte Husserl davon gesprochen, dass eine objektive
Außenwelt nur intersubjektiv erfahren werden könne, d. h. durch eine Mehrheit erkennender Individuen, die in Wechselverhältnis miteinander stünden.« 6
Sie schlägt Husserl vor, über das Problem der
Einfühlung
aus phänomenologischer Sicht eine Dissertation anzufertigen. So arbeitet Edith Stein doppelt: für die Dissertation und für
das Staatsexamen. Sie ist glücklich, denn sie hat eine erfüllende Arbeit gefunden, Freunde, mit denen sie die Freizeit verbringen
kann, und ist umgeben von einer schönen Landschaft. So kann sie das Studentinnenleben in seiner Mischung aus Arbeit, Diskussion
und Freude an der Natur genießen.
Nach dem Sommersemester 1913 wohnt Stein allein, denn ihre Freundin Rose ist nach Breslau zurückgekehrt. Einsamkeitsgefühle
beschleichen sie, aber sie hat so viel zu tun, dass sie ihnen nicht nachkommen kann. »Büchernützten mir nichts, solange ich mir die fragliche Sache nicht in eigener Arbeit zur Klarheit gebracht hatte.« 7 So arbeitet Stein Tag und Nacht.
Im nächsten Sommersemester findet sie eine neue Freundin, die fünfunddreißigjährige Toni Meyer, die in Göttingen phänomenologische
Studien betreiben will. Steins Studentinnenleben bleibt unbeschwert, bis am 28. Juni 1914 das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajewo ermordet wird und der Erste Weltkrieg beginnt.
Viele der Kommilitonen werden eingezogen oder melden sich freiwillig. Stein möchte sich dem Roten Kreuz
Weitere Kostenlose Bücher