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Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben

Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben

Titel: Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Gleichauf
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ernst. Dabei geht sie ganz unakademisch vor. Ihre Schülerinnen
     sollen lernen, eigene Gedanken zu entwickeln und sie schriftlich in kleinen Aufsätzen niederlegen. Für Weil dient die Philosophie
     nicht nur der Erkenntnis, sondern ganz wesentlich auch der Persönlichkeitsbildung. Aus diesem Grund gibt sie auch Kurse in
     der Volkshochschule, vor allem für Leute aus dem Arbeitermilieu. Sie ist der Meinung, die Lage der Arbeiter könne sich durch
     mehr Bildung und ein differenzierteres Denken verändern. Die Kluft zwischen intellektueller und körperlicher Arbeit könnte
     dadurch verringert werden.
    Weils Philosophieschülerinnen schließen jedoch bei der Schlussprüfung nicht sehr erfolgreich ab: Nur zwei bestehen das Abitur.
     Ihre Lehrerin hat ihnen zu wenig an abfragbarem, klassischem philosophiegeschichtlichen Wissen beigebracht. Trotzdem ist sie
     bei den Mädchen sehr beliebt. Sie geben ihr die Namen »La Simone« und »Notre mère Weil«, was bei der körperlich so zarten
     Erscheinung überrascht.Es muss an ihrer starken geistigen Ausstrahlung liegen oder vielleicht das betreffen, was Sokrates meinte, wenn er die Philosophie
     eine »Hebammenkunst« nannte. Weil hilft ihren Schülerinnen beim »Gebären« eigener Gedanken. Das kann so spannend sein, dass
     Noten dabei offenbar in den Hintergrund treten. Bei den Eltern allerdings sieht die Reaktion anders aus: Man zeigt sich höchst
     alarmiert. Verstärkt wird dieses Misstrauen auch durch Weils Benehmen generell: Sie lädt Arbeitslose zu den Schulmahlzeiten
     ein, sitzt mit ihnen bei Kartenspiel und Rotwein zusammen, gibt sich mit Steinklopfern ab und besucht düstere Lokale. Man
     hat sie im Visier und eines Tages wird sie beim Rektor vorgeladen. Ihre Arbeitgeber beschließen, die aufmüpfige Person nach
     Auxerre zu versetzen.
    Simone Weil hat es sich schon früh angewöhnt, sehr bescheiden zu leben. Ihre Mutter macht sich Sorgen um ihr körperliches
     Wohl und begleitet die Tochter zunächst. Sie gibt dem Wirt, in dessen Restaurant Simone Weil isst, zusätzliches Geld, damit
     er auf besonders nahrhafte Kost achtet. Ihre Tochter lässt sich jedoch nicht darauf ein: Sie begnügt sich weiterhin mit den
     billigsten Speisen, und der Wirt kann sie nicht davon überzeugen, dass ihr ablehnendes Verhalten keinen Sinn macht, weil das
     Essen ohnehin schon bezahlt ist.
    Eine solch übertrieben scheinende Selbstbescheidung ist schwer zu verstehen. Weil fühlt in sich die Pflicht, sich nichts zu
     gönnen. Wo will sie hin mit dieser Rigorosität? Was verspricht sie sich davon, wenn sie sich jeden leiblichen Genuss vorenthält?
     Wer ist diese Frau, die von ihren Schülerinnen verehrt wird, es schafft, andere zum selbstständigen Denken zu bringen, aber
     gleichzeitig so viele Leute schockiert und gegen sich aufbringt?
    Simone Weils Verhältnis zur Schulleiterin und zu ihren Kollegen ist schlecht. Ihr hoher Anspruch verhindert jeden zwanglosen
     Umgang. Die legitimierten Autoritäten haben große Probleme mit ihr und Weil hat Probleme mit diesen Hierarchien. Bereits in
     Le Puy hatte sie dem Schulrat auf seine Bemerkung hin, ihre Schülerinnen würden schwerlich das Abitur schaffen, geantwortet,
     ihr sei das ziemlich egal. In ihren Kursen in Auxerre geht sie auf die gleiche Weise vor wie in Le Puy: Sie ermuntert die
     Schülerinnen vor allem zum Schreiben. »Das Einzige, was Sie in einem Jahr lernen können, ist, etwas zu schreiben, was einen
     Sinn hat. Um Philosophen zu werden, fehlt es Ihnen an Zeit.« 7
    Weil verwendet keine Schulbücher, sondern nimmt Originaltexte, zum Beispiel die
Meditationes
von Descartes. Dieser Text soll als Anregung für eigene Gedanken dienen. In diesem Werk geht Descartes aus von einem grundsätzlichen
     Zweifel. Könnte es nicht sein, dass wir uns etwas vormachen und die Welt nichts ist als ein Traum oder eine Täuschung? Vielleicht
     führt uns ja ein »genius malignus«, ein böser Geist, an der Nase herum. Diese Ideen aus den
Meditationes
regen Weil an, ihren Schülerinnen ein Aufsatzthema zur Bearbeitung zu geben, das sich mit Descartes’ Thesen auseinandersetzt:
     »Nur der Zweifel kann helfen.« Ein anderes Mal wählt sie die
Politeia
von Platon, ein Werk, das den idealen Aufbau des Staates philosophisch zu erörtern versucht. Den Schülerinnen soll der Text
     als Grundlage dienen für ein genaueres Nachdenken über Gerechtigkeit in Politik und Gesellschaft. »Man soll also lernen und
     studieren ohne irgendein Verlangen

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