Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Arbeiter moderne Sklaven sind, die ein menschenunwürdiges Dasein fristen, kann
sie nicht stehenbleiben. Trotzdem ist es bezeichnend für sie, dass sie keinen Traum von einem besseren Leben hegt, sondern versucht, ein Ideal
zu entwerfen. Ein Ideal ist für sie im Unterschied zum Traum ganz wirklichkeitsnah, auch wenn es sich nie ganz verwirklichen
lässt. Nach Erkenntnis streben und aus der Erkenntnis der Realität heraus ein Ideal entwerfen, so stellt sich Simone Weil
ein Leben in Freiheit vor.
Aber hat Weil nicht auch irgendeinen persönlichen Wunsch? Hat sie überhaupt so etwas wie ein privates Leben, sehnt sich nach
Liebe und Freundschaft? In der Zeit der Fabrikarbeit schreibt sie über die Freundschaft, man solle sie nicht wünschen oder
sich erträumen, auch nicht suchen, denn da sie eine Tugend sei, solle man sie üben. Freundschaft könne kein Heilmittel gegen
Einsamkeit sein.
Simone Weil lebt ihr Leben in einem nahezu unvorstellbaren Grad an Bewusstheit. Sie hat den Blick in ihrem Denken und Tun
immer auf die ganze Menschheit gerichtet. Dieses Leben ist auf seine Art leidenschaftlich und wahrscheinlich erlebt Weil ihre
Art Glück darin.
Um eine kleine Ruhepause kommt Simone Weil nach der aufreibenden Fabrikarbeit nicht herum. Sie fährt mit ihren Eltern nach
Portugal. Ihre Mutter ist wie immer sehr besorgt um die angeschlagene Gesundheit ihrer Tochter, und das zu Recht.
In Portugal hat Weil, die Atheistin, eine intensive Begegnung mit dem Christentum. Sie wird dieses Erlebnis später in einem
Brief so darstellen: »In einem körperlich elenden Zustand betrat ich eines Abends jenes kleine portugiesische Dorf, das ach!
auch recht elend war; allein, bei Vollmond, eben am Tage des Patronatsfestes. Es waram Ufer des Meeres. Die Frauen der Fischer zogen, mit Kerzen in den Händen, in einer Prozession um die Boote und sangen gewiss
sehr altüberlieferte Gesänge, von einer herzzerreißenden Traurigkeit. Nichts kann davon eine rechte Vorstellung vermitteln.
Niemals habe ich etwas so Ergreifendes gehört, außer dem Gesang der Wolgaschlepper. Dort hatte ich plötzlich die Gewissheit,
dass das Christentum vorzüglich die Religion der Sklaven ist, und dass die Sklaven nicht anders können, als ihm anhängen,
und ich unter den Übrigen.« 14
Simone Weil macht ihre ganz persönliche Erfahrung mit dem Christentum. Es ist keine Spur von Schwärmerei darin, und genau
das passt zu Weil. Nachdenken und ein direktes Erleben kommen in diesem einen besonderen Moment zusammen. Wir werden Zeugen
eines intuitiven und gleichwohl absolut klaren Erfassens einer bestimmten Wirklichkeit. Simone Weil ist von der rein abstrakten
Denkweise fortgeschritten zu einem Philosophieren, das der sinnlichen Erfahrung einen großen Raum beimisst. Erkenntnis ist
zwar immer noch das Ergebnis intensiven Nachdenkens, aber sie ergibt sich nicht auf rein logischem Weg, sondern hat etwas
Spontanes an sich. So ungewöhnlich ist das eigentlich gar nicht. Fast jeder sieht sich irgendwann einmal einem schier unlösbaren
Problem gegenüber. Man grübelt und grübelt und kommt nicht von der Stelle, bis man plötzlich eine Einsicht hat. Kant würde
sagen, Simone Weil ist hier zu einer echten »Vernunfterkenntnis« gelangt. Sie geht zwar von der sinnlichen Wahrnehmung aus,
übersteigt diese jedoch und gelangt zu einer Erkenntnis, die etwas mit der allgemeinen Frage nach dem Sinn des Lebens zu tun
hat. Beweisen lässt sich ihre Aussage nicht.
Dieses Erlebnis und die Erkenntnis, die es mit sichbringt, bedeutet einen Wendepunkt in Simone Weils Leben. Mehr denn je wird sie Abstand nehmen von rein abstrakten Spekulationen.
Das wird bereits deutlich, als sie eine neue Lehrerinnenstelle in Bourges antritt. Eine ihrer Schülerinnen ist die Tochter
eines Gießereibesitzers. Weil besichtigt mit einigen Leuten den Betrieb und spricht den Wunsch aus, die Arbeiter mögen ihr
anonym schreiben, wie es ihnen in der Fabrik gehe. Die Fabrikleitung stimmt diesem Wunsch jedoch nicht zu, aus Angst vor einer
Stärkung des Klassenbewusstseins bei den Arbeitern.
Simone Weil liegt viel daran, den Kontakt zur praktischen Arbeit nicht völlig zu verlieren. Da in ihrer Schulklasse auch eine
Bauernstochter ist, nimmt sie die Gelegenheit wahr, die Landarbeit kennenzulernen. Sie möchte keinen Lebensbereich auslassen,
ihre Aufmerksamkeit auf alles richten. Ihr Kopfweh ist manchmal unerträglich und dann möchte sie am
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