Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
befreien. Es ist
finster in ihrem Inneren und sie hat keine Ahnung von einer Lösung ihres Problems. Aber sie wäre nicht Simone Weil, würde
sie nicht verbissen daran arbeiten. So ist sie eben, ernster und disziplinierter als die meisten ihrer Altersgenossinnen.
Nicht umsonst ist neben der Philosophie die Mathematik zeitlebens ihr zweites Lieblingsfach. Auch hier ist zähes Durchhaltevermögen
gefragt. Manchmal aber kann es sein, dass sich die Lösung unvermittelt, wie ein Blitz, einstellt. Genau so erlebt es Simone
Weil: Plötzlich, nach langen Monaten ernsthaften und verzweifelten Ringens ist ihr klar, dass ihr nur eine Möglichkeit bleibt:
Sie muss sich einfach auf den Weg machen in der Gewissheit, dass die konsequente Suche irgendwann belohnt werden wird. Diese
Gewissheit ist ihr klar und deutlich aufgegangen wie Descartes’
cogito ergo sum
(Ich denke, also bin ich). Wie für diesen Denker gilt für Simone Weil: Alles, was erkannt wird, muss klar und deutlich vor
demgeistigen Auge liegen. Die Vorbildfunktion der Mathematik ist eindeutig.
Simone Weil ist eine sehr gute Schülerin, wenn es um intellektuelle Leistungen geht. Probleme bereiten ihr Handarbeit oder
bildende Kunst. Diese Fähigkeiten werden auch zu Hause nicht gefördert. Alles Phantasievolle, Spielerische kommt zu kurz.
Als sie klein war, hatte sie fast keine Spielsachen, auch keine Puppe.
Den ersten Teil der Bakkalaureatsprüfung in Griechisch und Latein legt sie bereits mit fünfzehn Jahren ab. Danach wechselt
Simone Weil das Gymnasium und geht aufs Lycée Victor Duruy, wo sie trotz ihrer großen Begabung für Mathematik als Hauptfach
Philosophie wählt. Sie hält die Fähigkeit zum mathematischen Denken für eine völlig natürliche Sache, die jedem Menschen in
die Wiege gelegt wird. Sie kann es nicht nachvollziehen, wenn jemand in Mathematik keine guten Leistungen erbringt. Und so
stürzt sie sich auf das in ihren Augen viel Anstrengendere, die für sie größere geistige Herausforderung, und das ist die
Philosophie.
In ihrem Auftreten ist Weil zu dieser Zeit extrem eigenwillig. Sie gibt sich unangepasst, provozierend, bezeichnet sich als
Atheistin und fühlt sich sozialrevolutionären Kreisen zugehörig. Ihr äußeres Erscheinungsbild ist relativ ungepflegt, auf
»Pariser Chic« legt sie wie auch in der späteren Zeit keinerlei Wert. Die Gleichaltrigen haben es nicht leicht mit ihr. Man
muss eine ganze Weile graben, bis man zu dem weichen Kern in ihrem Inneren vorstößt. Simone Weil hat im Umgang etwas Starres,
ihre hohen Ansprüche wirken oftmals eher abstoßend als anziehend. »Sie konnte nicht anders, als sofort voll und ganz Partei
ergreifen und ihre Ideen augenblicklich in die Tat umsetzen, so wie siekeinen wie auch immer gearteten Kompromiss duldete. Ihre Kameraden, denen das nicht entgangen war, nannten sie deshalb den
›kategorischen Imperativ im Unterrock‹.« 3 Der ›kategorische Imperativ‹ stammt von Immanuel Kant und beinhaltet die Forderung, immer so zu handeln, dass das eigene
Handeln als Gesetz für alle anderen Menschen gelten könnte.
Nur wer Simone Weil besser kennt, weiß um ihr sensibles Innenleben. Sie gibt sich nie einfach einem Gefühl hin. Gefühle haben
für sie etwas von Egoismus und Passivität an sich. Leben bedeutet in ihren Augen jedoch, aktiv zu sein, etwas erreichen zu
wollen sowohl im Denken als auch im Handeln. Was Freundschaften betrifft, so bleibt sie gerne auf Abstand. Sie ist der Meinung,
dass man nie mit einem anderen eine Einheit bilden könne und somit Distanz das prägende Element jeder Beziehung sein sollte.
Es ist völlig klar, dass eine solche Haltung die jungen Leute in ihrer Umgebung nicht gerade ermuntert, den Kontakt zu ihr
zu suchen. Dennoch finden sich immer wieder Gleichgesinnte, mit denen Weil rauchend und diskutierend in Cafés sitzt. Besonders
angetan hat es ihr ein Student namens Pierre Letellier. Er vertritt das gleiche Lebensideal wie sie, möchte Philosoph sein
und Arbeiter, Intellektueller und Proletarier. Weil freundet sich auch mit einer Frau an, die das ganze Leben zu ihr stehen
und später eine Biografie über sie schreiben wird: Simone Pètrement. Stärker noch als zu Gleichaltrigen fühlt sie sich jedoch
zu Personen hingezogen, die älter sind und von denen man ihrer Meinung nach viel lernen kann.
Im Oktober 1925 begegnet die inzwischen sechzehnjährige Simone Weil einem Mann, der sie philosophisch maßgeblich
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