Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
beeinflusst:
Émile Chartier, genannt Alain. Er istGymnasialprofessor und sein Hauptgebiet ist die Religionsphilosophie. Hochinteressant und ungewöhnlich sind vor allem seine
Thesen zum Atheismus, zu dem sich ja auch Weil bekennt. Für Alain bedeutet der Atheismus einen Weg zu Gott. Der Mensch, der
Gott leugne, könne ihm näher sein als derjenige, der einen festen Begriff von ihm habe. Die Religion dürfe nie ein Trost sein.
Sie sei der Weg zum höchsten Gut. Der Gedanke, dass Gott nicht Nähe, sondern Ferne bedeute, muss einer wie Simone Weil einleuchten.
»Um zu Gott zu gelangen ... müssen wir durch die unendliche Dichte von Raum und Zeit hindurch. Die Liebe ist hierbei womöglich noch größer. Sie ist
so groß wie der Abstand, der zu überwinden ist.« 4 Anstrengung ist erforderlich, um einen Bezug zu Gott herzustellen. Hier ist Simone Weil denkerisch zu Hause, der philosophische
Ansatz Alains bietet ihr Stoff zum Weiterdenken. Seine Thesen wirken auch deshalb so nachhaltig, weil sie ihn persönlich kennenlernen
kann. Hier tritt ihr die Philosophie sozusagen leibhaftig entgegen, nicht aus grauen, trockenen Büchern. Tagtäglich erlebt
sie Alain im Unterricht und bekommt von ihm Sonderaufgaben gestellt. Dieser Lehrer erkennt die große Begabung seiner Schülerin
und lässt sie vor allem Aufsätze schreiben. Er ist der Überzeugung, dass durch das schriftliche Formulieren das Denken geschult
werde. Zum ersten Mal wird Weil bei Alain auch mit sozialistischen und gewerkschaftlichen Ideen bekannt gemacht. Er lehrt
sie, dass die Ursachen der Unterdrückung nicht durch zu einfache Lösungen beseitigt werden können.
Alain mag die Entscheidung Simone Weils, Lehrerin zu werden, nicht unwesentlich beeinflusst haben. Von 1928 bis 1931 besucht
sie die École Normale Supérieure, eine staatlicheAusbildungsanstalt für zukünftige Lehrer. Gleichzeitig hört sie Vorlesungen an der Universität, wo sie auch Simone de Beauvoir
begegnet, auf die sie einen großen Eindruck macht. In ihren Memoiren schreibt die Philosophin und Schriftstellerin Beauvoir:
»Sie interessierte mich wegen des großen Rufes der Gescheitheit, den sie genoss, und wegen ihrer bizarren Aufmachung; auf
dem Hof der Sorbonne zog sie immer von einer Schar alter Alainschüler umgeben herum. Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht,
und man hatte mir erzählt, dass sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei; diese Tränen zwangen
mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung für Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den
ganzen Erdkreis zu schlagen.« 5
Simone Weil ist eine Radikale, das fällt auch den anderen auf. Dennoch möchte sie nicht totale Außenseiterin, sondern auch
ein wenig wie ihre Mitstudentinnen sein und tritt deshalb in eine Rugby-Mannschaft ein. »Man konnte sie vom Spielplatz zurückkommen
sehen, über und über mit Schmutz bedeckt, voll blauer Flecken und von einer Verzweiflung besessen, über die ihr exzentrisches
Benehmen kaum hinwegtäuschen konnte. Für ihre schwächliche Gesundheit hatte sie nur hochmütige Verachtung.« 6 Bei einem Spiel erkältet sie sich so stark, dass eine chronische Stirnhöhlenvereiterung zurückbleibt. Weil, die schon immer
zu Kopfschmerzen neigt, erfährt in den kommenden Jahren eine solche Verschlimmerung dieses Übels, dass die Schmerzen manchmal
bis an die Grenze des Erträglichen heranreichen. In solch akuten Zuständen kann es sein, dass sie den Wunsch verspürt, die
Leute in ihrer Umgebung genau an der Stelle zu schlagen, wo bei ihr der Schmerz sitzt, um ihnen eine Ahnung von ihrer Qual
zu geben.
Im Jahr 1931 beginnt Weil mit ihrer Lehrtätigkeit in Le Puy. Ihr Ruf ist nicht der beste, und so schickt man sie in die Provinz,
um von dieser Radikalen, dieser
vierge rouge
(roten Jungfrau), wie sie genannt wird, zunächst einmal Ruhe zu haben. Aber da täuscht man sich gründlich: Weil wird überall,
wo sie hinkommt, Möglichkeiten finden, sich politisch zu betätigen. Für sie ist früh schon klar, dass das Denken nicht nur
eine Sache der Intellektuellen ist, sondern alle Menschen gleichermaßen angeht, die sogenannten Unterprivilegierten sogar
ganz besonders. So nimmt sie in Le Puy sogleich Kontakt auf zu den Gewerkschaften, deren politisches Programm ihr geeignet
erscheint, die Lage der Arbeiter zu verbessern.
Ihre Arbeit als Philosophielehrerin nimmt Simone Weil sehr
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