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Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben

Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben

Titel: Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Gleichauf
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nach guten Noten, nach Examenserfolgen, nach irgendwelchen Schulergebnissen, ohne die geringste
     Rücksicht auf seine natürlichen Neigungen und Fähigkeiten.« 8
    Das Lernen gleicht hier fast einer rituellen Handlung. Äußerste Aufmerksamkeit ist gefordert, ein Begriff, dem in Weils Denken
     eine Schlüsselposition zukommt.
    Gleichzeitig arbeitet sie im kommunistischen Flügel der Gewerkschaft für Erziehung mit. Dennoch versucht sie, sich von den
     Kommunisten nicht restlos vereinnahmen zu lassen. Weil glaubt nicht an eine Lösung der Probleme auf dem Weg eines revolutionären
     Umsturzes. Ihr scheint es sinnvoller, dass die einzelnen Menschen sich für ihre Sache einsetzen. Eine kritische Bewusstseinshaltung
     erscheint ihr vorrangig, nicht purer Aktionismus.
    Von Weils zwölf Schülerinnen bestehen wieder nur drei das Abitur. Sie muss erneut die Schule wechseln und wird diesmal nach
     Roanne in die Gegend der Haute-Loire versetzt, einen Ort, den sie sich selbst ausgesucht hat. Weil liebt diese Region mit
     ihren Bergwerken, den Fabriken und Gewerkschaftsgenossen. Der neuerliche Schulwechsel belastet sie nicht sonderlich, ist sie
     doch überzeugt davon, den ihr anvertrauten jungen Mädchen etwas für ihre weitere Entwicklung Wichtiges beigebracht zu haben.
     Wie bei den vorausgegangenen Umzügen kommt auch jetzt ihre Mutter wieder mit, um zu helfen, was Simone Weil gern annimmt.
    In Deutschland hat inzwischen Hitler die Macht ergriffen. Weil ist politisch aktiver denn je und trägt am 3.   Dezember 1933 die rote Fahne bei einer Demonstration der Bergarbeiter gegen die Herabsetzung ihrer Löhne um vierzig Prozent.
     Bei ihrer Begabung zur Abstraktion ist es klar, dass sie sich auch theoretisch mit Marx und Lenin beschäftigt. Getreu ihrem
     Grundsatz, dass Begriffe klar und deutlich zu sein haben, kritisiert sie Marx’ Begriff der »gesellschaftlichen Klasse«, der
     in ihren Augen niemals wirklichlogisch zu Ende gedacht wurde. Ansonsten schätzt sie die materialistische Denkweise, weil sie frei mache von Illusion und
     Täuschung. Atheismus und Materialismus seien die einzige Möglichkeit, ein Leben ohne Selbstbetrug zu führen. Sehen, was ist,
     nicht, was man sich wünscht. Ausgehen von den Tatsachen, ohne die Hoffnung zu hegen, es könne von irgendwoher Rettung kommen.
    Simone Weil ist frei von jeder Schwärmerei. Um am eigenen Leib zu erleben, was es heißt, in der Fabrik zu arbeiten, lässt
     sie sich für ein Jahr vom Lehrerinnendasein befreien und möchte Erfahrungen als Industriearbeiterin sammeln. Wie soll sie
     das schaffen, mit ihrer schwächlichen Konstitution, den Kopfschmerzen, die unvermindert heftig und andauernd sind. Aber sie
     will sich unbedingt dieser Situation aussetzen, niemand kann sie abhalten davon, keiner wird nach seiner Meinung gefragt.
     Solche Entscheidungen fällt Simone Weil selbst und allein. Und so beginnt sie Anfang Dezember 1934 als Hilfsarbeiterin in
     der Elektrofirma Alsthom in Paris. Minutiös trägt sie abends in ihr Tagebuch all das ein, was sie tagsüber erlebt hat. Sie
     arbeitet im Akkord, aber aufgrund ihrer schwächlichen körperlichen Verfassung schafft sie die geforderten Stückzahlen nicht.
     Weil erfährt auf drastische Weise, dass es schier unmöglich ist, Akkordarbeit und Philosophie zu verbinden. In der Fabrik
     ist Tempo gefragt und Weil muss über ihre körperliche Durchhaltekapazität hinaus arbeiten. Eigentlich möchte sie sich zuschauen
     bei der Arbeit und ihr Tun reflektierend begleiten. Sie hatte sich vorgenommen, Subjekt und Objekt gleichzeitig zu sein, was
     ihr aber nicht gelingt. »Die Erschöpfung lässt mich schließlich die wahren Gründe meines Aufenthaltes in der Fabrik vergessen,
     macht die stärkste Versuchung dieses Lebens fast unüberwindlich:nicht mehr denken, einziges Mittel, um nicht zu leiden. Nur am Samstagabend und am Sonntag kehren Erinnerungen zurück, Ideenstücke,
     erinnere ich mich
auch
ein denkendes Wesen zu sein. Entsetzen erfasst mich, als ich meine Abhängigkeit von äußeren Umständen feststelle: Es genügte,
     dass sie mir eines Tages eine Arbeit ohne wöchentlichen Ruhetag aufzwingen – was schließlich immer möglich ist   –, und ich würde zu einem Lasttier, gehorsam und ergeben (wenigstens in meinen Augen).« 9
    Zum Philosophieren braucht man Muße und Abgeschiedenheit. Harte körperliche Arbeit macht die Menschen träge im Denken, unfähig
     zur erforderlichen Konzentration. Was Weil allerdings auffällt

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