Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Menschen
in der ganzen Welt.
IM APRIL 1992 HÄLT MARTHA C. NUSSBAUM philosophische Vorträge in Dublin. Ihre Mutter liegt zu dieser Zeit weit weg in Philadelphia im Krankenhaus. Nussbaum
telefoniert regelmäßig mit ihr. Eines Tages informiert die Klinik sie darüber, dass es ihrer Mutter sehr schlecht gehe, ja
dass man sogar von einer lebensbedrohenden Situation sprechen könne. Nussbaum gelingt es, für den nächsten Tag einen Flug
zu buchen. In der Nacht träumt sie von ihrer Mutter. Während des Fluges schwankt sie zwischen Hoffnung und Angst, erträgt
kaum, dass das Flugpersonal lächelt wie immer, und ist wütend auf sich selbst, weil sie nicht bei ihrer Mutter war, als es
so schlimm wurde. Mit dem Verstand kommt sie den chaotischen Gefühlen nicht bei, sie ist hilflos und lässt sie einfach zu.
Als Martha Nussbaums Flugzeug gelandet ist, erfährt sie, dass ihre Mutter zwanzig Minuten zuvor gestorben ist. Nussbaums Schwester
war da und erzählte der Mutter, dass ihre andere Tochter auf dem Weg sei zu ihr.
Martha Nussbaum wird 1947 in New York City geboren. Sehr bald aber zieht die Familie um nach Bryn Mawr in Pennsylvania: »Nun,
ich mochte Bryn Mawr nicht wirklich. Ich hielt es für elitär und snobistisch und bekam Lust, aus all dem auszubrechen und
mir die weitere Welt anzuschauen und nachzudenken über Ungleichheiten von Rassen und Klassen und so weiter.« 1
Obwohl Nussbaum ihr Elternhaus als ziemlich abgehoben erlebt, hat sie doch vor allem zu ihrem Vater ein besonderes Verhältnis.
Als Partner in einer Rechtsanwaltskanzleihat er gelernt, hart zu arbeiten, und seine Arbeit bedeutet ihm sehr viel. Von ihm übernimmt sie die Vorstellung, dass jeder
Mensch in seinem Leben die Fähigkeiten ausschöpfen sollte, die in ihm angelegt sind. Auch Nussbaum selbst ist der Meinung,
man solle immer das Optimale herausholen aus allem, was man tut und was einem wichtig erscheint.
Nussbaums Mutter hat ihren Beruf als Raumausstatterin aufgegeben, um ausschließlich für ihren Mann und die zwei Töchter da
zu sein. Martha Nussbaum erlebt die Mutter als sehr emotionale, liebevolle Frau, die dennoch nicht rundum zufrieden ist. Trotz
ihrer großen Achtung vor Hausfrauenarbeit und Kindererziehung muss Nussbaum zugeben: »Ich begriff, dass Frauen, die gezwungen
sind, ihre Karriere aufzugeben, nicht immer ein glückliches Leben haben, und das war wichtig für mich.« 2 Gleichzeitig ist es aber nicht so, dass Nussbaum die Welt der Gefühle als minderwertig ansieht im Vergleich zur Gedankenwelt.
Sie begreift schon sehr früh, dass Gefühle wie Liebe, Wut, Trauer für unser Leben von ganz entscheidender Bedeutung sind.
Überzeugungen und Lebensansichten eines Menschen bilden sich auch über Emotionen, nicht nur über den Verstand, der umgekehrt
auf das emotionale Leben des Menschen einwirkt und es verändern kann. Und so ist es möglich, dass Gefühle in unterschiedlichen
kulturellen und sozialen Zusammenhängen und unterschiedlichen Lebenssituationen verschiedene Formen annehmen. Nussbaums frühestes
Interesse gilt denn auch nicht der Philosophie, sondern der Literatur und hier besonders dem Theater, dem Drama. Dort findet
sie Figuren, die aus Gefühlen heraus handeln, deren Leben weitgehend durch Gefühle bestimmt wird. Zunächst liest Nussbaum
am liebstengriechische Tragödien, außerdem Shakespeare und Dostojewski. Auch spielt sie mit Begeisterung Theater, bis sie merkt, dass
es sie im Grunde mehr interessiert, das Theater zu analysieren, zu verstehen, was im Drama passiert, als selbst zu spielen.
Die Faszination für die Inszenierung von Texten ist ihr aber geblieben. Über ihre Vorlesungstätigkeit als Professorin sagt
sie: »Ich mag es noch immer, meine eigenen Manuskripte zu inszenieren, aber als Vortragende kann man das Manuskript selbst
schreiben.« 3 Damit betont Nussbaum einerseits, was sie an der Schauspielerei reizt, andererseits aber auch, wieso für sie bei ihrer Arbeit
als Philosophieprofessorin noch eine zweite, spannende Qualität hinzukommt, nämlich das Schreiben eigener Texte. Martha C. Nussbaum ist eine Philosophin, die ihrem Publikum, ob ZuhörerInnen oder LeserInnen, ihre Themen bildhaft vor Augen führen
möchte. Es sollen keine rein abstrakten Systeme entstehen, sondern die Gedanken, die nach Nussbaums Meinung ihren Ursprung
in der unmittelbaren Erfahrung haben, sollen auch auf die Erfahrung von Menschen anspielen. Die
Weitere Kostenlose Bücher