Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
vorzubereiten.
Die erste Station ist Casablanca, wo alle Auswandererkarg untergebracht sind und auf dem Boden schlafen müssen, was Simone Weil ja gewöhnt ist. Im Juli kommt die Familie endlich
in New York an, wo sie André treffen, der schon 1940 in die USA ausgewandert ist. Er hatte seit 1922 in Göttingen, Paris und
Rom Mathematik studiert und 1928 promoviert. Danach lebte er in Straßburg. Die tiefe Verbundenheit zwischen den Geschwistern
war trotz der unterschiedlichen Lebenswege nie in eine Krise geraten. Nach wie vor ist der Familienzusammenhalt eine große
Stütze in Weils Leben.
Zunächst wohnt sie mit ihren Eltern in einem Hotel, dann in einem Apartment. Weil jedoch möchte nach wie vor unbedingt nach
England reisen, obwohl die Einreisebedingungen hart sind. Sie schreibt viele Briefe an Freunde und Bekannte in London. Maurice
Schumann, der in London für die französische Exilregierung arbeitet, legt bei deren Kommissar für Inneres und Arbeit ein gutes
Wort für sie ein und erwirkt die Erlaubnis, Weil nach London zu holen. Sie wünscht sich eine gefährliche Arbeit, zu anderem
fühlt sie sich nicht berufen.
Am 10. November verlässt sie New York und ihre Eltern mit den Worten: »Wenn ich mehrere Leben hätte, würde ich euch eines widmen,
aber ich habe nur ein Leben.« 25
Bis Liverpool dauert es zwei Wochen. Danach muss Weil weitere drei Wochen im Durchgangslager eines Londoner Vororts verbringen,
weil man sie aufgrund ihrer bisherigen sozialen Betätigungen und aufrührerischen Gedanken als »gefährlich« einstuft. Sie darf
nicht schreiben, keine Briefe verschicken und nicht telefonieren. Trotzdem lässt sie sich nicht unterkriegen, ist sogar zu
Späßen aufgelegt und verkleidet sich zum Beispiel eines Nachts als Geist, womit sie ihre Mitbewohner zu Tode erschreckt.
Maurice Schumann hilft auch jetzt und Weil kann das Lager endlich verlassen.
Im Januar 1943 kommt sie bei einer Witwe unter, die sich Sorgen macht um ihre schlimm hustende Untermieterin. Weil achtet
weniger denn je auf ihre Gesundheit, heizt nicht richtig und isst ungenügend aus Solidarität mit den hungernden Franzosen.
Bei der Exilregierung bekommt Weil nur eine Schreibtätigkeit. Sie soll Texte analysieren, die von der Widerstandsbewegung
entworfen werden. Aber auch jetzt arbeitet sie ihre Philosophie weiter aus und versucht zunehmend, eine gedankliche Verbindung
herzustellen zwischen dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und der Spiritualität. In der Gesellschaft selbst, so die
Botschaft, müsse spirituelles Leben möglich sein. Entfremdete Arbeit solle abgeschafft werden, damit sich die Menschen sich
auf das Wesentliche konzentrieren könnten. Weils Philosophie ist eine Verbindung aus politischer Theorie und Mystik. Es solle
jedem Menschen gegönnt sein, zum unpersönlichen Kern in seinem Leben vorzudringen. Hierfür seien die gesellschaftlichen Bedingungen
zu schaffen.
Weil arbeitet wie besessen. Nächtelang sitzt sie am Schreibtisch, gönnt sich keine Pause außer am Sonntag, wo sie eine befreundete
Familie besucht. Sie lehnt alle Speisen ab, die sie für luxuriös hält.
Viele Projekte schwirren in Weils Kopf umher, so unter anderem die Idee, Frontkrankenschwestern auszubilden. An Maurice Schumann
schreibt sie: »Die Anstrengung, die ich hier unternehme, wird bald durch eine dreifache Grenze beendet sein. Die eine Grenze
ist gefühlsmäßiger Art, denn der ständig wachsende Schmerz, mich fehl am Platze zu fühlen, wird schließlich gegen meinen Willen,
wie ichfürchte, das Denken hindern. Die andere ist intellektueller Natur; es ist offensichtlich, dass in dem Moment, wo mein Denken
sich dem Konkreten zuwendet, es mangels Objekt am Ende sein wird. Die dritte ist physisch, denn die Müdigkeit wächst.« 26
Weil schläft nicht mehr als drei Stunden, vernachlässigt ihre Gesundheit völlig. Eines Tages findet eine Freundin sie bewusstlos
in ihrem Zimmer. Sie wird ins Krankenhaus gebracht, verweigert aber die Nahrung, kommt auf eigenen Wunsch in ein Sanatorium,
isst aber auch hier nicht.
Am 24. August 1943 stirbt Simone Weil an Herzversagen aus Schwäche. Kompromisslos bis zur Selbstaufgabe war sie ihr Leben lang. Am
Ende verließ sie die Kraft. In ihrem Denken und Handeln hat sie hingewiesen auf gesellschaftliche Mängel, die auch heute noch
bestehen. Die Frage nach der Bedeutung und dem Sinn von Arbeit ist noch immer eine Grundfrage des Zusammenlebens von
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