Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Journalistin ist sie mittlerweile viel gefragt und genießt hohes Ansehen. Weil betont in dem oben genannten Artikel auch
die große Bedeutung der griechischen Philosophie, da bei ihr alles auf Ausgleich der Kräfte ausgerichtet sei. Es komme auf
das Gleichgewicht an. Sie wendet sich gegen die Systemphilosophie, weil diese das Heil des Menschen, die Entwicklung des inneren
Lebens, vernachlässige. Der größteAnreiz für das Philosophieren könne nur die Loslösung des Denkens von der Materie sein. Wenn es zu einem Gleichgewicht der
Kräfte komme, dann könne die Materie den Geist nicht mehr beugen.
In Marseille lernt Weil neue Menschen kennen, so die Dichter Jean Tortel und Jean Lambert. Außerdem trifft sie alte Bekannte
aus der Heimat wieder: einen Schulkameraden aus der Gymnasialzeit und einen Klassenkameraden ihres Bruders mit Schwester.
Diese Frau, Hélène Honnorat, ist gläubige Katholikin und Weil führt sie in die katholischen Kreise von Marseille ein. Damit
tut sie für sich selbst nichts minder Gutes, lernt sie doch so den fast blinden Dominikanerpater Perrin kennen.
Mit dieser Begegnung beginnt ein lebendiges Gespräch über alle Fragen des Glaubens, die Weil unbeantwortet mit sich herumträgt.
Bisher ist sie der katholischen Kirche nicht beigetreten. Ein wesentlicher Hinderungsgrund ist, dass die Kirche aufgrund ihrer
Machtfülle die Unabhängigkeit des Individuums einschränke. Außerdem stört es sie, dass die Kirche die Wahrheit anderer Religionen
nicht anerkennt. Simone Weil erscheint es konsequenter, sich nicht taufen zu lassen, sozusagen auf der Schwelle zu bleiben
und doch Christin zu sein.
Durch Pater Perrin lernt Weil den katholischen Philosophen Gustave Thibon kennen und besucht ihn auf seinem malerisch gelegenen
Gut in der Ardèche. »Ich will nicht von ihrem Aussehen sprechen. Sie war keineswegs hässlich, wie man gesagt hat, aber vorzeitig
gebeugt und gealtert durch ihre strenge Lebensweise und ihre Krankheit, nur die wunderbaren Augen hatten den Schiffbruch ihrer
Schönheit überlebt. Will auch nicht reden von ihrer ganzunwahrscheinlichen Kleidung und dem Gepäck, ihre königliche Ahnungslosigkeit wusste nicht nur nichts von den Regeln der weiblichen
Eleganz, sondern nicht einmal etwas von jener selbstverständlichen Kunst der Unauffälligkeit.« 21
Thibon erkennt in Simone Weil zugleich eine Verwandte wie auch eine Fremde. Im Denken fühlt er sich ihr nahe, in der Lebensweise
nicht. Er bewundert die Tiefe ihrer Ansichten, das asketische Leben aber kann er nicht teilen mit ihr. Es kommt häufig zu
kleinen Reibereien, als Weil zum Beispiel darauf dringt, selbst bei Blitz und Hagel unter freiem Himmel zu schlafen. Thibon
stellt ihr das fast verfallene Häuschen seiner Schwiegereltern zur Verfügung. Wenigstens das akzeptiert sie. Thibon kann kurz
durchatmen. Natürlich möchte sie auch in die Landarbeit eingeführt werden, doch sie ist zu ungeschickt, um wirklich eine Hilfe
darzustellen. Was Thibon ebenfalls provoziert, ist ihre penetrante Nahrungsverweigerung. Sie ernährt sich manchmal nur von
wilden Früchten, außerdem rührt sie all die Lebensmittel nicht an, die Städtern nicht zugänglich sind. Dabei könnte sie sich
doch hier in der guten Luft und bei frischer Kost erholen und Kräfte sammeln, aber nein, damit würde sie ja ihrer Einstellung
zuwiderhandeln. Thibon ist hilflos.
Entschädigt wird er allerdings durch die Abende, an denen sie zusammen Platon im Originaltext lesen. Weil ist des Griechischen
mächtiger als Thibon, außerdem ist sie eine sehr gute Pädagogin und hilft ihm, seinen Horizont in Bezug auf griechische Philosophie
zu erweitern. Da sie mit kurzen Unterbrechungen fast zwei Monate auf dem Gut verweilt, haben sie genug Zeit dafür. Revanchieren
kann sich Thibon, indem er ihr die Werke des Mystikers Johannesvom Kreuz leiht. Ein sehr anschaulicher Grundbegriff dieses Denkers, der von 1542 – 1591 lebte, ist die
dunkle Nacht der Seele.
Dieses Bild versucht den Zustand zu verdeutlichen, in dem der Mensch offen wird für die Begegnung mit Gott. Er hat vorher
alle Abhängigkeiten des irdischen Lebens hinter sich gelassen. Dieser Gedanke muss Weil ansprechen, gehen doch ihre eigenen
Überlegungen und Erfahrungen genau in dieselbe Richtung.
Zu dieser Zeit lernt sie auch das Vaterunser im griechischen Urtext auswendig und rezitiert den Text mehrmals am Tag. Am Morgen
vor der Arbeit ist es eine
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