Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Philosophin will die Menschen
dort packen, wo sie sich täglich aufhalten. Sie sieht sie als Wesen, die sich freuen, trauern, lieben und hassen, und möchte
ihnen klarmachen, dass all diese Emotionen nicht unterdrückt werden müssen, wenn es ums Denken geht, im Gegenteil. Erinnern
wir uns an die Tragödie
Antigone
von Sophokles: Antigone, die Tochter des Ödipus, bestattet ihren Bruder Polyneikes, obwohl ihr Onkel, Kreon, Herrscher von
Theben, es verboten hat. Polyneikes hatte Theben mit Waffengewalt erobern wollen. Die Liebe zu ihrem Bruder und der Gehorsam
den Göttern gegenüber sind für Antigone wichtiger als das politische Urteil Kreons. Ein Gefühl, nämlich Liebe zumBruder, motiviert das Handeln der Antigone auf entscheidende Weise. Sie wird zum Tode verurteilt und ihr Geliebter, Haimon,
der Sohn Kreons, stirbt mit ihr, aus Liebe. Und auch die Gattin Kreons und Mutter Haimons stirbt. In ihrem Fall ist es der
Schmerz, der tödlich wirkt.
Tief empfundene Emotionen bringen in dieser Tragödie Menschen zum Handeln, bewirken Urteile, die ungeheure Ausmaße annehmen,
über Leben oder Tod entscheiden. Selbst Kreon, der Politiker, ist nicht frei von Gefühlen. Sein Zorn, verbunden mit einem
prinzipientreuen Starrsinn, verwehrt ihm den Weg zu jeder Form von Güte oder Mitgefühl. Die Frage nach der Moral stellt sich
in dieser Tragödie vehement. Müssen die Menschen auf die göttliche Stimme hören? Hat die Politik auf jeden Fall immer recht?
Oder sollte jeder Mensch in sich selbst die Maßstäbe für gutes Handeln finden? Handelt Kreon in seiner starren Prinzipientreue
wirklich moralisch?
Nussbaum sieht in der Literatur eine hervorragende Möglichkeit, die Vielfalt emotional ausgerichteter Urteile und Handlungen
zu veranschaulichen. In der Einleitung zu ihrem Buch
Love’s Knowledge,
das 1990 erschienen ist und Aufsätze zu Literatur und Philosophie enthält, schreibt Nussbaum: »Die literarische Form ist nicht
trennbar vom philosophischen Gehalt, sondern ist selbst ein Teil des Gehalts und darüber hinaus ein wesentlicher Teil der
Suche nach und der Darstellung von Wahrheit.« 4 Nussbaum ist der Meinung, dass die Vielfalt und Komplexität des Lebens viel besser in der Literatur als im traditionellen
philosophischen System erfasst werden kann. Und vor allem die Bedeutung der Gefühle lässt sich nirgends so gut nachvollziehen
wie hier. Gefühle sind für Nussbaumwichtige Antennen der Erkenntnis. »Gefühle sind keine irrationalen Aufwallungen und Triebkräfte, sondern Weisen, die Welt
zu sehen. Sie haben ihren Platz im Kern des eigenen Wesens und bilden den Teil, mit dem man sich die Welt begreiflich macht.« 5 Und an anderer Stelle: Den Gefühlen kommt die Aufgabe zu, Werte zu ermitteln, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
So mögen zum Beispiel Statistiken eine gewisse Bedeutung haben, aber sie abstrahieren immer vom einzelnen Menschen, um den
es eigentlich gehen sollte. Wie viele Menschen schließlich bei einer Hungersnot sterben, ist unwesentlich, denn jeder einzelne
Tote bedeutet Verlust und Schmerz. »Ein Intellekt ohne Emotionen ist sozusagen wertblind; ihm fehlt der Sinn für die Bedeutung
und den Wert von Menschen, der in den den Gefühlen innewohnenden Werten enthalten ist.« 6 Indem man sich einzuleben versucht in einen anderen Menschen, entwickelt man eine Vorstellung davon, was in dessen Leben
wichtig ist.
Und wieder veranschaulicht Nussbaum ihre These anhand eines Romans, diesmal von Charles Dickens. Er heißt
Harte Zeiten,
ist 1854 erschienen. Die Hauptfigur, ein Fabrikant, ordnet alles einem Nützlichkeitsdenken unter. Der philosophische Terminus
für ein solches Denken heißt »Utilitarismus«. Was keinen unmittelbaren Nutzen hat, zählt nicht. Die Kinder dieses Mannes aber
entwickeln sich überhaupt nicht nach seinen Vorstellungen. Der ganze Erziehungsdrill nützt nichts. Sein Sohn wird sogar kriminell,
die Tochter handelt weit eher nach Gefühl, als dass sie ihren Verstand gebrauchen würde. In diesem Roman spielt auch ein Zirkusmädchen
eine Rolle. Ihr Lehrer erzählt ihr, in einer Millionenstadt seien nur25 Menschen auf der Straße verhungert, welch ein Fortschritt! Außerdem berichtet derselbe Lehrer, dass von 100 000 Menschen, die eine gefährliche Seereise gemacht hätten, nur 500 ertrunken seien. Das Mädchen reagiert aber nicht wie erwartet
distanziert und zufrieden, sondern sehr emotional bezüglich der einzelnen
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