Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Menschenleben. »Hat man es mit vorgestellten und
nachempfundenen Menschenleben zu tun, akzeptiert man keine Zahlen und keine angeblich niedrigen Statistiken über die Sicherheit
von Reisenden.« 7 Es sind die Gefühle, die einem Elend, Hunger und Tod in ihrer ganzen Grausamkeit nahebringen. Deshalb sind sie auch über
den privaten Bereich hinaus von Wichtigkeit. Gefühle bereichern das gesamte soziale Leben und machen es wertvoll.
Moral hat für Martha Nussbaum weniger mit Prinzipien zu tun, als mit einem sensiblen Reagieren auf das, was sich in der näheren
und weiteren Umgebung zuträgt. Ein moralischer Mensch ist in ihren Augen jemand, der in warmer und leidenschaftlicher Weise
mit seinen Mitmenschen umgeht. »Damit soll gesagt sein, dass Menschen, die fähig sind, in einer Weise in einem anderen Menschen
aufzugehen, die nicht auf einer überlegten moralischen Einschätzung beruht, auch im sozialen Leben großzügiger, weniger nachtragend
und weniger beckmesserisch sind als Menschen, die die Dinge immer von einem moralischen Standpunkt aus betrachten. Aufgrund
ihres leidenschaftlichen Lebensgefühls sind sie auch in Bezug auf Wohltätigkeit tatkräftiger und großzügiger ...« 8 Nussbaum argumentiert damit gegen jede Art von moralischem Rigorismus. Sie sieht die Entwicklung der Moral in engem Zusammenhang
mit einem lebendigen, anderen gegenüber aufgeschlossenen Lebensgefühl.
Ein weiteres Grundthema in Nussbaums Philosophie ist die Stellung der Frau. Auch in dieser Frage geht sie aus von der Rolle,
die die Gefühle bei der Bestimmung eines möglichen Unterschieds zwischen Mann und Frau, männlich und weiblich spielen. Noch
immer herrscht die Meinung vor, Frauen neigten eher zu emotionalen Reaktionen und Handlungsweisen als Männer. Warum das so
sein soll, ist durch nichts zu beweisen, und für Nussbaum scheint sich die Erziehung in diesem Fall einer reinen Ideologie
auszuliefern, mit dem Ziel, perfekt funktionierende Männer und Frauen zu formen: So werden Jungs eher zur Selbstgenügsamkeit
erzogen, dazu, auf sich zu hören, keine allzu intensiven Bindungen einzugehen, sich nicht durch Beziehungen in ihrem Fortkommen,
beruflich und privat, beeinflussen zu lassen. Den Mädchen dagegen schärft man von klein auf ein, wie wichtig enge Bindungen
sind. Hierbei gibt es natürlich Unterschiede zwischen Kulturen und Epochen. Frauen, denen Bildung verwehrt wird, neigen eher
dazu, sich und ihr gesamtes Leben über ihre Beziehung zu Mann und Kindern zu definieren. Wenn dann etwas geschieht, das diese
Konstellation durcheinanderbringt, etwa indem eine der Bezugspersonen stirbt, bricht das sorgsam gehütete Gefüge zusammen.
Es ist völlig einsichtig, dass in einer solchen Situation Emotionen wie Wut und Trauer sich vehement äußern können. Wer wollte
daran zweifeln, dass Nussbaum auch jetzt wieder Beispiele aus der Literatur zitiert: »Die Heldinnen in Senecas Tragödien,
die durch ihre Gefühle zum Wahnsinn getrieben werden, sind gewöhnlich Ehefrauen, die nur durch Heirat Aussicht auf Glück haben.
Sie verfügen weder über die vollen staatsbürgerlichen Rechte noch über eine umfassende Bildung; sie haben außerhalb des Hauseskeine Aussicht auf eine produktive Selbstverwirklichung. Folglich hängt für sie alles von dieser einen Bindung ab; und wenn
diese zusammenbricht, geraten sie völlig außer sich, als hätten sie kein eigenes Selbst. Römische Männer haben so etwas nie
erfahren, denn sie hatten viele Dinge, die ihnen lieb und teuer waren und die nicht von den Launen eines einzigen Menschen
abhingen (der durch seine Sozialisation nicht zur Zuverlässigkeit erzogen wurde).« 9 Nussbaum betont, dass hier nicht einfach Fiktion am Werk sei, sondern dass Seneca die Situation vieler Frauen in aller Welt
beschreibt.
Es geht also darum, die Erziehung von Mädchen und von Jungen zu verändern. Jungs sollten lernen, welche Bereicherung enge
Bindungen für das Leben darstellen, und Mädchen müssen darauf hingewiesen werden, dass es noch andere Möglichkeiten gibt,
sich zu entfalten, als die absolute Bindung an andere Menschen.
Martha Nussbaum versucht zu zeigen, dass es keinen großen Sinn hat, sich zu fragen, inwiefern Männer und Frauen unterschiedlich
sind, sondern dass es für unser Zusammenleben viel mehr bringt, wenn wir uns auf das besinnen, was allen Menschen gemeinsam
ist. Erst dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, die Gleichberechtigung
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