Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
haben dabei eine Art
von einfachem Sosein erfahren, sich nicht an vorgeschriebene Regeln gehalten. Trotzdem waren sie nicht gedankenlos, sondern
haben unter anderem nächtelang diskutiert über die verschiedensten Themen. Diese Art, ihren Alltag zu gestalten, trennte Gehring
von ihrem wissenschaftlichen Arbeiten. Die Bereiche sollten nicht vermischt werden, meint sie. Die Wissenschaft kann nicht
alles sein, sie kann niemals ein »Zuhause in der Wahrheit« bieten, kann keine Identität schaffen. Das gilt besonders für die
sogenannte Frauenforschung, die immer wieder betont, hier würden Frauen wissenschaftliche Methoden auf die Erforschung ihrer
selbst anwenden. Das erscheint Gehring seltsam und befremdlich. Ihr Anliegen war und ist es nie primär, philosophische Frauenforschung
zu betreiben, das käme ihr zu einseitig vor. Trotzdem betreibt sie unter anderem Studien zur Geschlechterforschung. Aber sie
lässt sich nicht einseitig vereinnahmen. Gehring hat die Philosophie nicht gewählt, um eine bestimmte thematisch festgelegte
Forschung zu betreiben, sondern weil sie das Fach liebt. Ihre Lehrer waren fast durchgängig Männer, bei denen sie, wie sie
sagt, viel gelernt hat, und die sich ihr gegenüber fair verhalten haben. Ihr ist keine Professorin begegnet, wohl aber eine
Dozentin, die ihr wichtig war und die ihr zeigte, dass man als Frau sehr wohl das Leben einer Denkerin führen kann.
Bei den »explizit feministischen« Wissenschaftlerinnen ist Gehring bis heute nicht wirklich angekommen. Sie vermutet, dass
das daran liegt, dass man ihr kein Etikett anheften kann, dass sie in ihrem Denken zu wenig gebunden ist an spezifisch weibliche
Themen. »Ironischerweiseempfinde ich meine Randstellung jetzt als große Freiheit. Ich bin in keiner Weise auf eine bestimmte Ecke oder bestimmte Forschungs-Kooperationen
festgelegt, und ich kann jederzeit authentisch meine eigene Meinung von Arbeitsgebieten vertreten. Abschieben in die ›nur-Frau‹-Ecke
kann man mich – jedenfalls aus inhaltlichen Gründen –, nicht. Ich kann sagen: Das mache ich auch, aber deswegen könnt ihr mich trotzdem nicht irgendwie abschieben oder verbuchen.« 3 Gerade diese charakteristischen Eigenschaften sind es, die Gehrings Denken so spannend machen. Es ist ihr fast peinlich zuzugeben,
dass es die Wirklichkeit ist, die sie interessiert. Natürlich, was sonst könnte eine Philosophin zum Denken anregen. Die Wirklichkeit,
wie Gehring sie erlebt, wahrnimmt, ist eine, an deren Oberfläche sich permanent Blasen bilden, Wellen, und deren Tiefe nicht
als solche zu isolieren ist. Es gibt diese vermeintliche Tiefe nicht, es gibt nur immer wieder Veränderungen, Verschiebungen
im Wirklichsein der Welt, und wir Menschen sind daran beteiligt.
Seit 2002 ist Petra Gehring Philosophieprofessorin an der TU Darmstadt. Das Philosophische Seminar ist im Schloss untergebracht
und man muss eine enge Wendeltreppe hinaufgehen bis in den 2. Stock. Der Gedanke des elfenbeinernen Turms befremdet Gehring nicht, das sei selbstverständlich der Bereich der Philosophie,
bloß seien die Türen offen und jeder könne nach Belieben eintreten. Ihr macht die Lehre ebenso viel Freude wie die Forschung
und selbst Verwaltungsaufgaben sieht sie nicht als übermäßige Belastung an. Es gibt ja immer etwas zu beobachten, neue Themen
zu erschließen. Petra Gehring sagt über ihre Arbeitsweise, sie sei sowohl text- und begriffsbezogenals auch bezogen auf die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem, was sich zeige. »Ich selbst würde als Drittes noch die Geschichte
nennen. Ich arbeite immer auch historisch. Wie etwas ist und wie es sein kann, ruft die Frage herauf: Wie ist es geworden?
Weswegen konnte etwas so selbstverständlich werden, dass dieses bestimmte Etwas einen Wirklichkeitswert hat, der dann eineindeutig
wird oder gar alternativlos scheint?« 4
Es gibt viele Dinge, mit denen wir selbstverständlich umgehen, ohne sie zu hinterfragen. Sie gehören zu unserer Wirklichkeit,
und niemand käme auf die Idee, sie zu leugnen. Jede Zeit lebt andere Möglichkeiten, definiert und interpretiert die Welt auf
ihre spezifische Weise. Wie wir Freude und Schmerz erleben, was uns Bildung bedeutet, wie wir mit Behinderungen umgehen, wie
wir uns dem Tod stellen, welche Rolle das Zusammenspiel von Körper und Geist spielt: All diese Phänomene gehören zur Wirklichkeit,
machen sie aus und bestimmen unser Verhältnis zu ihr. In das
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