Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
es an, und nicht, sich mit einer toten Person
zu befassen. Und dann beginnt sie mit der Textanalyse.
Petra Gehring ist der Überzeugung, dass man als Philosophin Privates und Berufliches nicht trennen kann. Bei ihr speziell
sei es so, dass sie seit ihrer Kindheit in einer Welt der hitzigen Debatten lebe. Von morgens bis abends wurde geredet in
dem Akademikerhaushalt, in dem sie groß wurde.
1961 wurde Gehring in Düsseldorf geboren. Ihr Vater ist Physiker, ihre Mutter Historikerin. Das Haus ihrer Kindheit und Jugend
war ein lautes Haus, wie sie selbst sagt, ihre Familie sei eine »Diskutierfamilie«, für Gäste nicht ganz unanstrengend. Petra
Gehring, ihre beiden Schwestern und die Eltern überboten sich bei der Suche nach den besten Argumenten.
Als Gehring zwölf Jahre alt war, zog die Familie nach Laasphe, einem Dorf im Südsauerland. Schrecklich öde war das: Mädchen
mit Faltenröcken, und auch sonst alles eher bieder und brav. Gehring hielt sich am Leben durch Provokation, und im Dorf galt
man schon als provozierend, wenn man in rosa Latzhosen durch die Straßen ging. Latzhose gegen Faltenrock, Rebellion gegen
Stillehalten, offener Blickkontakt gegen niedergeschlagene Augen. Dazu die antiautoritär eingestellten Eltern. Bücher gab
es in Mengen, die Töchter brauchten nur ins Regal zu greifen. Petra Gehring erinnert sich nicht an besondere, sehr stark prägende
Leseerlebnisse und sagt, sie bewegte sich lektüremäßig irgendwo zwischen Karl May, dem Kamasutra und der Geschichte von Moses
aus der Bibel. Bei der Wahl der Themen, die sie interessieren, war Gehring schon damals sehr offen. Es gab und gibt kein Lieblingsbuch,
keinen Lieblingstext. Jeder neue Text eröffnet einen neuen Aspekt der Wirklichkeit. Es gibt keine Hierarchie der Texte, nicht
die Suche nach der perfekten Geschichte. Die ganze Wirklichkeit in all ihren Formen und Schattierungen regt Gehring schon
immer zum Nachdenken an. Von den verschiedenen Weisen der Beschäftigung mit dem Wirklichen oder dem Leben geht eine große
Faszination aus. Was überhaupt macht das Wirkliche der Wirklichkeit aus? Wie bildet sich das, was wir als das Wirkliche anerkennen,
heraus? Diese philosophische Grundfrage stellt sich Gehring nicht nur unmittelbar, sondern vor allem über die Beschäftigung
mit Texten. Es sind Texte, die die Lust an philosophischen Fragestellungen wachrufen: »Es war schon in der Schule klar. Irgendwie
ein drogenartiger Effekt der Texte.« 1 Gehring stellt sich der Frage nach der Wirklichkeit mit Leidenschaft, Vehemenz und nie nachlassender Konzentration.In den Urlaub fahren, nein, das könne sie sich eigentlich nicht vorstellen, denn Semesterferien zu haben bedeute, endlich
einmal am Stück arbeiten zu können.
Petra Gehring hat in Gießen, Marburg und Bochum studiert. Philosophie war von Anfang an Hauptfach, zunächst studierte sie
parallel Jura, um ihren Eltern zu zeigen, dass sie auf jeden Fall von etwas würde leben können. Irgendwann erschien ihr das
aber unehrlich, und so wagte sie es schließlich, ihr geliebtes Fach Philosophie in das Zentrum des Studiums zu stellen. »Ich
finde, es ist das reichhaltigste und untergründigste, das die europäische Universität besitzt.« 2 Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft wurden in ihrem Magisterstudium die beiden Nebenfächer. Philosophie war in den
1980er-Jahren fast ein reines Männerfach. Philosophiestudentinnen waren Exotinnen, man sah sie ein wenig befremdet an und
witterte eine Merkwürdigkeit, einen vielleicht nicht sichtbaren Makel, denn wieso man als Frau Philosophie studieren möchte,
war den meisten schwer verständlich. Selbst unter Akademikerinnen war die Philosophin eine fremdartige Erscheinung. Die anderen
schauten einen an, als vermuteten sie irgendeinen gut kaschierten körperlichen oder psychischen Makel. Es war eine Gratwanderung,
aber wen das philosophische Fieber erfasst hat, den kann nichts vom einmal eingeschlagenen Weg abbringen. So war es zumindest
bei Petra Gehring.
Die junge Studentin nahm nicht nur ihr Studium sehr ernst, sondern engagierte sich auch politisch, und zwar in der freien
Frauenbewegung. In Marburg arbeitete sie im autonomen Frauenzentrum mit. Dabei ging es ihr weniger um Theoriebildung als um
gemeinsame Unternehmungen, Kochen, Motorradfahren, Tanzen. Die eigene Unabhängigkeitspüren, das war wichtig, es war, wie Gehring sagt, auch eine »Wurzel« für das eigene Denken. Die Frauen
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