Denn am Sabbat sollst du ruhen
seiner Stimme, der Alte klang überrascht und verärgert, und Michael, der nicht aufgefordert wurde einzutreten, schob sich hinein und sagte in drängendem Ton: »Professor Hildesheimer, ich muß sofort mit Ihnen sprechen.«
Nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte, sah Hildesheimer ihn mißtrauisch an und sagte: »Aber ich habe Patienten, den ganzen Morgen«, und sein deutscher Akzent war stärker denn je.
»Ich fürchte sehr, daß Sie wenigstens einem absagen müssen, jetzt gleich.«
Hildesheimer musterte den Inspektor streng, als es an der nur angelehnten Tür, hinter der sie standen, läutete. Der blonde Kopf einer Kandidatin spähte hinein. Michael erinnerte sich, daß Zila sie vernommen hatte, eine magere Frau mit kurzen Haaren und einem schmalen Gesicht, das an einen Vogel erinnerte. Hildesheimer schien ratlos, Michael bewegte sich nicht von der Tür, und da bat der Alte zö gernd, die Sitzung zu verlegen. Er erklärte, er müsse sich um »etwas Dringendes« kümmern, wobei er Michael einen anklagenden Blick zuwarf. Die Kandidatin wurde blaß, und sie fragte ihn, ob er sich wohl fühle. Ausgezeichnet, entgegnete er, es tue ihm nur sehr, sehr leid, daß er es ihr nicht vorher hatte mitteilen können, aber er müsse die Begegnung auf die nächste Woche verlegen. Michael hatte den Eindruck, daß seine Patientin jede seiner Erklärungen bereitwillig akzeptiere, solange der Mann nur gesund war und atmete.
Tadelnd sagte der Alte, daß es zu Michaels Glück keine Patientin, sondern eine Kandidatin gewesen sei. »Als nächstes erwarte ich einen Patienten, und ich beabsichtige nicht, diesen Vorgang zu wiederholen.«
Michael Ochajon blickte auf seine Uhr. Es war bereits fünf nach neun, er hatte bis zur Ankunft des nächsten Patienten nur fünfundfünfzig Minuten. Er bat den Alten abzusagen und fügte hinzu, er habe ihm, Professor Hildesheimer, bislang nie Grund gegeben, seine Ernsthaftigkeit anzuzweifeln.
Ohne ein weiteres Wort schritt Hildesheimer in sein Arbeitszimmer. Nach einem kurzen Blick in sein Notizbuch wählte er auf dem schwarzen alten Apparat eine Nummer und sagte die bevorstehende Sitzung ab.
Dann schloß Michael, der das Arbeitszimmer unaufgefordert hinter Hildesheimer betreten hatte, die Tür, und nachdem er einen Blick auf den Alten geworfen hatte, zog er auch den Vorhang zu, der an der Innenseite der Tür hing. Erwartungsvoll und gespannt setzte der Alte sich in einen der Lehnstühle, und Michael nahm schnell im zweiten Platz. Trotz der Helligkeit draußen war es im Zimmer dämmerig. Die schweren Vorhänge bedeckten das große Fenster. Am Fußende der Couch befanden sich Schlammspuren von den Schuhen des Patienten, der gerade gegangen war, und am Kopfende lag eine weiße Stoffserviette, auf der man noch immer den Abdruck des Kopfes erkennen konnte. Unvermutet sehnte sich Michael danach, auf der Couch zu liegen und in den dämmerigen Raum zu sprechen. Die weiße Serviette schien ihm trotz der Spuren, die ein anderer hinterlassen hatte, einladend, sie versprach Ruhe und verhieß die Möglichkeit, sich ganz in fremde, aber vertrauenswürdige Hände legen zu dürfen. Er wünschte sich, daß der Alte hinter ihm sitze und allein für das Kommando verantwortlich sei. Aber sein Verlangen nach der Couch teilte er dem Analytiker nicht mit.
Hildesheimer stützte den Kopf auf die Faust, sein Arm ruhte auf der Sessellehne, er wirkte müde und erwartungsvoll zugleich.
Michael wußte, daß es besser war, den Grund seines überraschenden Besuchs sofort mitzuteilen. Eine volle Stunde hörte der Alte ihm wortlos zu. Michael breitete alle Tatsachen vor ihm aus. Er erzählte von Linder, vom Revolver, vom Gärtner, von Oberst Alon und daß er, wie es sich herausgestellt hatte, der lange unbekannte Patient war, er erzählte von dem Steuerberater und von den Alibis, die alle aufweisen konnten. Dann legte er dem Alten die Ereignisse der letzten Wochen dar, ohne die Erklärung vorwegzunehmen, die ihn selbst in eine Sackgasse geführt hatte. Michael bezweifelte nicht, daß dem Alten kein Wort entging, ob wohl er sich bis zu dem Augenblick, als er den Namen Catherine-Louise Dubonnet erwähnte, nicht rührte.
Es war bereits zehn Uhr, als Michael zu seinen Gesprächen mit der Französin kam. Sie hatte Hildesheimer zu Hause besucht, bevor sie abreiste. Den ganzen Sabbat hatte sie mit dem Versuch verbracht, ihn zu trösten. Zu Michaels Überraschung erhellten sich seine Züge nicht, als sie von ihr sprachen, er
Weitere Kostenlose Bücher