Denn am Sabbat sollst du ruhen
als Teil eines Prozesses, dessen Gesetzmäßigkeiten nur der richtigen Auslegung bedurften. »Wenn das gelingt«, pflegte er zu dozieren, »halten wir die Werkzeuge zum Verständnis des gesamten Rätsels in unseren Händen.« Ochajon konnte seine Theorie demonstrieren, aber es fiel ihm schwer, sie in Worte zu fassen. Dennoch versuchte er unermüdlich, sie seinen Mitarbeitern zu erläutern: In der ersten Phase einer Untersuchung käme es hauptsächlich darauf an, die in den Fall verwickelten Menschen zu begreifen, auch wenn dieses Verständnis zunächst nicht weiterzuhelfen scheine. Daher versuche er immer, die neue Welt, in der er ermittle, zu begreifen, sich aber auch gefühlsmäßig einzuleben. Rein oberflächlich habe das zur Folge, daß seine Vorgesetzten am Anfang einer Untersuchung immer unzufrieden mit seinem Tempo sind. Im Moment, beispielsweise, wußte er nicht, weshalb ihn seine Leute von der Sonderkommission suchten, aber er rief sie nicht an, weil ihm die Begegnung mit Hildesheimer wichtiger war, wichtiger sogar als eine neue Fährte.
Er wollte einfach nicht mit der Sonderkommission Verbindung aufnehmen und vielleicht Tatsachen zu hören bekommen, die ihn von Hildesheimer abgelenkt hätten. Er wußte, daß ihm ein Gespräch mit dem Alten mehr Aufschluß geben könnte über den Geist des Ortes, an dem der Mord geschehen war, und über die Antriebskräfte der Personen als alle Indizien, die am Tatort zu entdecken waren. Natürlich war er nervös, er befürchtete sogar, daß sein Verschwinden nicht folgenlos bleiben würde, und er wußte im Voraus, daß man ihn nicht verstehen würde. Schorr, sein direkter Vorgesetzter, griff ihn immer wieder wegen seiner »Seltsamkeiten« an. Aber er war überzeugt, daß man eine Untersuchung mit Ruhe beginnen müsse, mit einer Art Vorspiel, um dann, später, das Tempo zu steigern.
Hildesheimer schloß einen Augenblick die Augen; dann schaute er Michael wieder an. Zögernd sagte er dann, daß er fürchte, einige Regeln mißachten zu müssen. »Wenngleich meine Frau behauptet, ich verstünde nichts von Menschen, die nicht meine Patienten sind, spüre ich, daß ich Ihnen vertrauen kann. Außerdem bin ich, wie ich bereits erwähnt habe, an einer schnellen Aufklärung interessiert. Nicht, daß ich nun ein Geheimnis offenbaren will, aber es ist einfach nicht üblich, mit Außenstehenden über interne Angelegenheiten zu sprechen.«
Michael hörte konzentriert zu. Er fragte sich, wohin das führen würde.
»Für gewöhnlich«, sagte der Alte, »sehe ich mich vor, sobald mich Psychoanalytiker oder auch ganz normale Menschen nach dem Institut fragen. Ich vergewissere mich dann zuerst, weshalb die Frage gestellt wurde«, er betonte das Wort ›weshalb‹, »denn unvorsichtige Antworten kön nen in gewissen Situationen viel Schmerz verursachen. In diesem Fall jedoch stellen Sie selbst Fragen, deren Antworten ganz sicher Schmerz mit sich bringen werden. Aber es gibt hier keinen Ausweg, das Geschehene ist unumkehrbar, der Schaden bereits angerichtet. Bitte entschuldigen Sie die lange Einleitung, aber ich wollte darlegen, warum ich prinzipiell nur sehr zurückhaltend über das Institut spreche und nun von dieser Gewohnheit abweiche.«
Als kaum hörbar die ersten großen Regentropfen fielen, war Hildesheimer bereits mitten in seiner Erzählung. Als er von den dreißiger Jahren in Wien berichtete und von seinem Entschluß, nach Palästina auszuwandern, zündete sich Michael, ohne um Erlaubnis zu bitten, eine Zigarette aus der neuen Noblesse-Packung an, die er aus seiner Hemdtasche gezogen hatte. Als Hildesheimer bei dem Haus im alten Bucharan-Viertel anlangte, befanden sich bereits drei Stummel in dem Aschenbecher, den der Alte von dem Brett unter dem kleinen Tisch geholt hatte. Hildesheimer stand auf und entnahm seiner Schreibtischschublade eine dunkle Pfeife und stopfte sie, während er sprach. Süßlicher Tabaksduft verbreitete sich mit abgebrannten Streichhölzern.
Schon bevor Hildesheimer die lange Erzählung begann, hatte Michael gewußt, daß ihm der Alte sein Lebenswerk schildern würde. Die schmerzlichsten Dinge wurden im sachlichsten Ton vorgetragen, um Michael vollständig ins Bild zu setzen. »Wer diesen Fall behandelt, kann sich Fehler nicht leisten. Er muß wissen, womit er sich beschäftigt. Er muß wissen, was auf dem Spiel steht. Die Zukunft unserer psychoanalytischen Arbeit hängt ganz und gar davon ab, ob sich in unseren Reihen tatsächlich ein Mörder befindet.
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