Denn am Sabbat sollst du ruhen
bedankt hatten, verließ sie mit dem leeren Tablett murmelnd den Raum.
Draußen wehte ein starker Wind, und durch das Fenster, dessen Eisenrolläden hochgezogen waren, sah man Blitze. Sie tranken schweigend, ohne auf den Wetterumschwung einzugehen.
Hildesheimer stützte sein Kinn auf die Hand und sagte wie zu sich, die Sache mit den Schlüsseln habe ihn den ganzen Tag beschäftigt. »Erstens war es nicht Evas Art, die Schlüssel in der Küche zu lassen. Analytiker«, er lächelte, »sind generell ein pedantisches Volk, und sie war«, hier lächelte er nicht mehr, »besonders pedantisch. Es ist unwahrscheinlich, daß sie das Telefon offen ließ und die Schlüssel vergaß, es sei denn ...« – er schwieg.
»Es sei denn«, wiederholte er dann bitter, »jemand hat geläutet. Nicht irgend jemand. Es muß jemand gewesen sein, mit dem sie verabredet war, den sie nicht warten lassen wollte. Anders gibt es keinen Sinn.«
»Jemand, der keinen Schlüssel hatte«, meinte Michael. »Oder aber jemand, der seinen eigenen Schlüssel lieber nicht benutzte.«
Hildesheimer blieb hartnäckig bei seinem Gedankengang: »Zweitens, weshalb telefonierte sie nicht, bevor sie fort ging, von zu Hause aus? Womit wir wieder bei den zentralen Fragen sind.« Hildesheimer richtete sich kerzengerade auf. »Mit wem hat sie sich getroffen, warum im Institut und wen rief sie an?« Er hatte die Fragen ohne Atem zu holen hervorgestoßen. »Und noch etwas beschäftigt mich«, sagte er seufzend. »Wen hat sie so früh angerufen, noch dazu an einem Sabbat? Das war kein Familiengespräch, dafür hätte sie ihr Telefon zu Hause benutzt, und mich hat sie auch nicht angerufen. Wen dann?« Mit Tränen in den Augen fuhr er fort: »Ich war ihr sehr verbunden. Doch neben diesem Verlust muß ich auch befürchten, daß das Geschehene unser Institut, sein kompliziertes Innenleben, das Miteinander unserer Mitglieder gänzlich zerstören wird. Ich möchte, daß die Angelegenheit möglichst rasch geklärt wird. Wie viel Zeit kann nach Ihrer Erfahrung, Inspektor Ochajon, eine solche Untersuchung in Anspruch nehmen?«
Michael schwieg. Schließlich machte er eine abwägende Handbewegung. Es brauche seine Zeit, meinte er, sicher lich. Doch man könne es nie vorher sagen. Vielleicht dauere es einen Monat, wenn jemand gestehen sollte. Wenn nicht, vielleicht ein Jahr. Trotz der Verlegenheit, die er empfand, als der Alte sich mit der Hand die Augen wischte, sah er ihn unverwandt an.
»Ich möchte es noch einmal betonen«, sagte Hildesheimer, »ich bin davon überzeugt, daß kein Selbstmord vorliegt.«
Michael nickte und sagte, wahrscheinlich nicht, nach allem, was er gehört habe. Aber es gebe Fälle, da sei es leichter, an Mord oder an Totschlag zu denken als an Selbstmord. »Trotzdem«, sagte er vorsichtig, »daß sich eine erfahrene Psychoanalytikerin das Leben nimmt ...«
Hildesheimer schnitt ihm das Wort ab: »So was hat es schon gegeben«, sagte er. »Es war zwar keine erfahrene Psychoanalytikerin, sie stand am Beginn ihrer Karriere, aber sie behandelte doch schon drei Patienten. Und es war wirklich sehr schwer für alle. Wir haben den Fall, so gut es ging, unter Verschluß gehalten, trotzdem war es ein Schock. Das ist jetzt schon einige Jahre her, ich war jünger und vielleicht weniger empfindlich. Jetzt aber fällt es mir sehr schwer zu akzeptieren, daß Eva nicht mehr da ist. Und ich habe die Befürchtung«, sagte er beinahe flüsternd, »daß es möglicherweise noch schmerzhafter sein wird, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß unter uns ein Mörder ist.«
»Was noch nicht feststeht«, meinte Michael.
»Aber es deutet im Augenblick alles darauf hin«, sagte der Alte.
Michael schwieg, doch er war aufmerksam und voller Mitgefühl. Er konnte, wenn es nötig war, Druck ausüben, und es gab Menschen, die er mit der Härte seiner Verhörmethoden sehr beeindruckt hatte. Hier aber war er sicher, daß er so rücksichtsvoll wie möglich vorgehen mußte und daß dies der einzige Weg war, an sein Gegenüber heranzukommen. Ochajon interessierte sich für die trivialen Dinge, die sich häufig genug nicht in Worten ausdrückten – doch am Ende waren sie zumeist der entscheidende Schlüssel zur Lösung des Problems. Außerdem gab es da etwas, das er seine »historischen Bedürfnisse« nannte. Das waren die Bedürfnisse des Historikers in ihm, der stets das ganze Bild rekonstruieren wollte, der den Menschen nicht losgelöst von seiner ganzen Welt sehen konnte, sondern
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