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Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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betasten.
    Nur zwei Geheimnisse hatte Joe, nur zwei Inseln des Glücks: die Liebe zu seiner ersten Frau, der verlorenen, und seine Liebe zur Poesie.
    Aber diesmal brachte ihm Hölderlin keinen Trost, und er spürte das Würgen des zurückgehaltenen Weinens, der Tränen, die sich nicht lösen wollten.
    Um halb vier morgens entnahm er seinem kleinen Taschenkalender, daß sein erster Patient erst um neun Uhr kommen würde. Der Gedanke an eine Schlaftablette setzte sich in seinem Kopf fest. Er bestellte den telefonischen Weckdienst, betrat das Schlafzimmer mit einem Glas Wasser in der Hand und öffnete die Schublade des Nachttischchens neben seinem Bett, in dem er die Schlaftabletten aufbewahrte.
    Er knipste seine Leselampe an und zog die Tabletten heraus. Rosenfeld besorgte sie ihm regelmäßig, nicht ohne eine stereotype Ermahnung: »Wie jeder Schuster gehst du barfuß. Vielleicht suchst du lieber jemand auf, anstatt mit diesem Dreck zu leben?«
    Doch diesmal konnte von Mißbrauch wirklich keine Rede sein: Schon über zwei Wochen hatte er keine Tablette mehr genommen. Es ist ein harter Tag gewesen, dachte er, als er die Tablette schluckte und das Päckchen in die Schublade zurücklegte. Dann machte er das Licht aus und wartete auf das Wunder. Aber während er auf die Wirkung der Tablette wartete, fiel ihm ein, daß etwas anders gewesen war in der Schublade, etwas, das gewöhnlich beim Durchstöbern der Schublade störte, hatte gefehlt.
    Später sollte Joe sagen, daß er mit zunehmendem Alter immer mehr der These Freuds zustimmen würde, daß es kaum Zufälle auf dieser Welt gibt. Es war gewiß kein Zufall, daß er gerade in dieser Nacht das Fehlen des Revolvers bemerkte.
    Sobald er begriffen hatte, was nicht stimmte, sprang er aus dem Bett, zog die Schublade heraus und leerte sie aus. Er fand nicht, was er suchte. Auch nicht in der zweiten Schublade und nirgendwo anders im Zimmer.
    Aber da begann die Schlaftablette bereits zu wirken, und sein Körper wurde schwer und schlaff. Auf dem Weg ins Bett dachte er, daß alles bis zum Morgen warten könne, und als er einschlief, klang in seinem Gehirn die zweite Strophe der »Hälfte des Lebens« nach:
     
    Weh mir, wo nehm ich, wenn
    Es Winter ist, die Blumen, und wo
    Den Sonnenschein,
    Und Schatten der Erde?
    Die Mauern stehn
    Sprachlos und kalt, im Winde
    Klirren die Fahnen.
     
    Er schlief fest, bis er das hartnäckige Klingeln des Telefons hörte, Alarmsignale in seinen Traum mischte, in dem sein Auto aufgebrochen worden war, und schließlich wachte er auf. Er nahm den Hörer. Es war sieben Uhr einunddreißig. Er blieb auf dem Bett sitzen und fragte sich, wie er die erste Behandlung absagen könnte, um zur Polizei zu gehen und das Verschwinden des Revolvers zu melden.
     
     
     

Siebtes Kapitel
     
     
    Am Sabbatmorgen, als Eva Neidorf tot im Institut gefunden wurde, durften die Patienten der geschlossenen Abteilung des Margoa-Krankenhauses in den Garten gehen. Trotz aller Versuche der Oberschwester, die Männer auf Abteilung D zu überreden – »kommt, seht, was für ein schöner Tag heute ist« –, blieben sie zusammengekauert in ihren Betten liegen. Schwester Dvora ging von Bett zu Bett und versuchte die Kranken zu überreden, in die Sonne hinauszugehen. Nur zwei kamen: Schlomo Cohen und Nissim Tobol. Sie erhoben sich schwerfällig von ihren Betten und durchquerten wie Schlafwandler den großen Raum, bis sie die Tür erreichten, wo sie stehen blieben und in die Sonne blinzelten.
    Zur gleichen Zeit ging Ali, der junge, arabische Gärtner aus dem Flüchtlingslager bei Dehejsche, von Rosenstrauch zu Rosenstrauch und harkte gemächlich Blätter und Abfall auf eine Schaufel, die er dann in den großen Eimer leerte, den er hinter sich herzog. Ab und zu hob er den Kopf und blickte über den Zaun auf die vorbeifahrenden Autos. Er arbeitete seit dem frühen Morgen und erreichte erst um zehn Uhr den Zaun, der das Krankenhaus von der Straße trennte. Seit einigen Wochen arbeitete Ali am Sabbat anstatt sonntags. Es war ihm gelungen, den Hausverwalter zu überzeugen, dieser besonderen Regelung zuzustimmen, nachdem er während des ersten Jahres alle Arbeit, die ihm aufgetragen wurde, getan hatte, ohne etwas zu verlangen. Außerhalb des Krankenhauses wußte niemand von dieser Regelung. Der Hausverwalter fürchtete die Reaktion des Gesundheitsministe riums, das einen so offenkundigen Verstoß gegen die Sabbat ruhe nicht gern sah. Auf der Gehaltsabrechnung und dem Dienstplan der

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