Denn am Sabbat sollst du ruhen
ängstlich wirkte, doch war er an die Furcht auf den Gesichtern der Leute gewöhnt, mit denen er beruflich in Kontakt kam.
Sie sagte »sehr angenehm« und sah Linder fragend an. Während Linder kurz erklärte, man habe ihn gebeten, In spektor Ochajon zu helfen – den Revolver erwähnte er nicht –, konnte Michael sie aus der Nähe betrachten. Ihr rotes Kleid aus weichem, glattem Stoff war seiner Meinung nach für einen so kalten Tag zu leicht, paßte aber sehr gut zu ihrem blassen Gesicht, zu ihren grauen Augen und ihrem schwarzen Haar. Sie hatte eine Frisur, die man, soweit Michael sich damit auskannte, als Pagenschnitt bezeichnete und die ihre Blässe unterstrich. Sie hatte hohe Wangenknochen, volle, vielleicht etwas zu volle Lippen. Und wären nicht ihre dicken Knöchel und die kurzen, ungepflegten Finger (er bemerkte die abgekauten Fingernägel) gewesen, wäre sie vollkommen gewesen.
Er hoffte, daß man ihm seine Bewunderung nicht anmerkte, und er versuchte immer, seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu behalten, mit beachtlichem Erfolg. Das behauptete wenigstens Zila, die dann gewöhnlich fragte, weshalb er sein Glück nicht als professioneller Pokerspieler versuchte.
Linder erinnerte Michael daran, daß Dina von Dr. Nei dorf Supervision erhalten habe. »Ich habe vorhin davon gesprochen, über sie sollte am Sabbat abgestimmt wer den ...« Michael erinnerte sich. Ihm entging aber auch nicht die Veränderung seines Tons. Die Spontaneität der letzten Stunde wich einer Spannung, und sein Blick wanderte abwechselnd von ihm zu Dina und wirkte gequält.
Linder fragte Michael, ob sie fertig seien. »Fast«, entgeg nete Michael und schlug vor, daß Dina sich zu ihnen geselle. »Aber ich habe nur fünf Minuten bis zum nächsten Patienten«, antwortete sie mit tiefer, langsamer Stimme.
Michael bestand darauf.
Sie setzte sich mit übergeschlagenen Beinen auf die Couch. Michael dachte, daß Stiefel das Problem mit den Knöcheln lösen würden. Er konnte nicht verstehen, wes halb sie ausgerechnet Schuhe mit hohen Absätzen trug.
Auf seine Frage antwortete sie, daß sie tatsächlich von Dr. Neidorf Supervision erhalten habe, vier Jahre lang. »Es war eine wundervolle Beziehung, ich habe sehr viel bei ihr gelernt, und ich habe sie auch geschätzt.« Sie sprach langsam und betonte jedes Wort, jede Silbe. Die Pausen zwischen den Worten waren zu lang, aber ihr Sprechen drückte keinerlei Empfinden aus.
Lindner saß da und sah sie an. Seinem Gesichtsausdruck und seiner wachsenden Nervosität entnahm Michael, daß auch er ihre merkwürdige Artikulationsweise bemerkte, wenn auch Lindner weniger überrascht und mit dem Phänomen bereits vertraut wirkte.
Die Supervision, fügte Dina nach kurzer Pause hinzu, sollte abgeschlossen werden, natürlich unter der Bedin gung, daß die Unterrichtskommission ihre Fallstudie bestätigen würde.
Michael erkundigte sich, ob das Wort »Bedingung« irgendwelche Zweifel ausdrücken sollte.
»Es bestehen immer Zweifel«, erwiderte sie.
Die Antwort erregte Lindners Ärger. Ihre Bescheidenheit, sagte er streng, sei überflüssig, es gebe keinen Zweifel, habe auch nie welche gegeben. Alle seien von ihrer Arbeit beeindruckt, er wisse das, schließlich habe sie auch von ihm Supervision erhalten.
Dina Silber faltete die Hände. »Alle sind nervös, wenn es um die Vorstellung geht – auch wenn das objektiv gesehen überflüssig ist.« Dabei blickte sie auf ihre Uhr.
Michael fragte, ob sie nicht noch etwas bleiben könnte.
»Nur bis es an der Tür klingelt«, entgegnete sie unwillig.
Er zeigte ihr den Stundenplan, den sie rekonstruiert hatten, und fragte, ob sie noch weitere Leute kenne, die von Eva Neidorf behandelt worden waren.
Ihre Hand, die das Blatt hielt, zitterte so sehr, daß sie es auf ihre Knie legen mußte. Sie betrachtete mit Interesse die Namen, sah dann Lindner an und fragte, ohne Michael zu beachten: »Wußten Sie, daß sie so viele Termine hatte?«
Linder nickte. »Einerseits konnte sie sich nicht genug darüber beklagen, andererseits ließ sie sich immer wieder unter Druck setzen.«
»Welchen Druck meinen Sie?« fragte Michael.
»Ein berühmter Analytiker erhält ununterbrochen Gesuche um Behandlung. Freunde und Kollegen bedrängen ihn, nur noch diesen einen Fall anzunehmen, und manchmal kann man dann nur sehr schwer ablehnen.«
Dina Silber betrachtete wieder den Plan auf ihren Knien und sagte schließlich, daß sie selbst jemand Neidorf als Therapeutin empfohlen
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