Denn am Sabbat sollst du ruhen
Gespräch hinauslief. Er begann sich auszukleiden, und der Junge richtete sich auf, ohne ihm zu antworten. »Wahrhaftig, Juval, ich hatte einen schweren Tag, gestern auch. Hab ein wenig Erbarmen.«
»Ich wollte dich nur überraschen und habe dir sogar ein Geburtstagsgeschenk mitgebracht. Ist er nicht heute? Ich dachte, wir hätten uns für gestern Abend verabredet. Wolltest du nicht anrufen?«
»Ich freue mich sehr, dich zu sehen, wirklich. Und danke für das Geschenk. Tut mir Leid wegen gestern Abend, aber es ist etwas passiert, und ich konnte nicht. Ich konnte nicht mal anrufen.« Während er sprach, bedauerte er jedes Wort, das er sagte. Er wußte, daß er nicht das sagte, was Juval erwartet hatte, aber die Kälte, die Müdigkeit und der Hun ger machten ihm so zu schaffen, daß er nichts anderes zuwege brachte.
»Gib wenigstens zu, daß du es vergessen hast. Telefonie ren kann man immer«, sagte Juval, und sein Gesicht ver zog sich beleidigt. »Wenn es dir wichtig gewesen wäre, hättest du gekonnt.« Es war der bekannte Text, seine Quelle war ihnen beiden bekannt, und Michael brach in Gelächter aus. Auch der Junge lächelte.
»Siehst du, daß Mutters Worte sehr nützlich sein können?« fragte Michael auf dem Weg zur Dusche.
Juval erhob sich, ging hinter ihm her und stand im Flur. »Du kannst hereinkommen, wenn du willst«, rief Michael, nachdem er geduscht hatte. Der Junge setzte sich auf den Wannenrand und sah seinem Vater zu, der sich bückte, um sein Gesicht beim Rasieren im Spiegel zu sehen. Er hatte sich in ein großes Handtuch gehüllt und wischte von Zeit zu Zeit den Spiegel ab, der stets von neuem beschlug.
»Und wie geht es ihr?« fragte Michael, der es für gewöhnlich vermied, mit dem Sohn über seine geschiedene Frau zu sprechen, und nicht wußte, weshalb er diesmal von seiner Gepflogenheit abwich.
»Sie ist in Ordnung«, sagte der Junge. Er war nicht überrascht wegen der Frage, oder er zeigte es nicht. »Sie will in Urlaub fahren. Ins Ausland. Für fünf Wochen. Glaubst du, daß ich hier wohnen könnte?«
»Und was glaubst du?« entgegnete Michael, nahm et was Rasierschaum von seinem Gesicht und tupfte ihn auf die Nase des Jungen, der verlegen lächelte und ihn abwischte.
»Wann fährt sie denn?« fragte Michael und wischte sich die Reste des Schaums vom Kinn.
»Im April«, erwiderte Juval.
»Wann im April? Wird sie zum Sederabend des Pessachfestes nicht hier sein?« Der Junge verneinte.
»Und dein Großvater, was sagt der?« fragte Michael und bereute es, noch bevor das letzte Wort verklungen war.
»Er bezahlt, du weißt doch, wie das ist«, seufzte der Junge. Und Michael, der genau wußte, »wie das ist«, trocknete schweigend sein Gesicht ab.
Der Sederabend im Hause seines ehemaligen Schwiegervaters war ein unvergeßliches Erlebnis. Dann wurde das Kristallservice aus den Vitrinen geholt, und der Diamantenhändler und seine Frau bemühten sich, alle einzuladen, die sie kannten. Nira hatte all die Jahre hindurch mit ihrem Mann und ihrem Sohn daran teilnehmen müssen. Michael war, solange er verheiratet war, nicht ein einziges Mal zum Sederabend seiner eigenen Mutter gegangen, er konnte sich dem Druck seines Schwiegervaters nicht widersetzen. Nira führte ihn zu Josek, ihrem Vater, und der sah Michael an, als wollte er sagen: »Nach all den Jahren und allem, was ich für dich getan habe, kannst du mir nicht einmal diesen kleinen Gefallen tun? Du wirst mich doch nicht allein lassen mit Fela, nicht wahr?« Tatsächlich aber sagte er: »Michael, du weißt doch, daß wir keine Familie mehr haben, für uns ist der Seder ein traumatisches Ereignis, aber das kann niemand verstehen, der nicht seine Familie verloren hat. Nira ist alles, was uns geblieben ist und ...«
Wenn der Holocaust erwähnt wurde, wurde Michael weich. Und so saßen sie beim Seder und aßen ein Gericht nach dem anderen: Hühnerbouillon, Gefillte Fisch und alle anderen Speisen, an die er sich in den sechs Jahren Ehe mit Nira gewöhnt hatte.
In der Haggada übersprangen sie einige Seiten, denn Josek konnte die Mahlzeit nicht erwarten. Als Juval noch ein Baby war, flüchtete sein Vater zu ihm, sobald er weinte. Als er heranwuchs, sagte er die Kushiot auf und löste so etwas die Spannung, die in dem großen Speisezimmer mit all den fremden Menschen herrschte, die Josek – Gott weiß, woher – zusammengetrommelt hatte. Immer befan den sich unter den Gästen zwei Leute aus Amerika und zwei aus Deutschland, stets gab es
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