Denn die Gier wird euch verderben - Thriller
sich nicht gedulden, sondern liest den Zettel vor den Augen der Klasse, während ihre Wangen glühend rot werden.
»Fräulein Lehrerin«, steht dort. »Auf ärztlichen Rat hin habe ich mir Schnee in die Unterhose gestopft. Aber das hilft nicht.«
Sie schreibt eine Antwort, während der Junge wartet.
»Herr Bergwerksdirektor Lundbohm«, schreibt sie. »Ich stehe gerade vor der Klasse. Das hier muss ein Ende nehmen.«
Wenn jemand das liest, soll er doch glauben, uns wären die Stühle ausgegangen, denkt sie.
Im Mai werden die Nächte heller. Da liegen sie wach und reden miteinander. Lieben sich und reden. Lieben sich ein weiteres Mal. Mit ihm kann sie über alles sprechen. Alles interessiert ihn. Er ist so neugierig und gebildet.
»Erzähl mir was«, bittet sie ihn dann. »Egal, was.«
Und draußen in der hellen Nacht hüpfen die Schneehähne über den Schnee und lachen gespenstisch. Sperlingskäuze und Sperbereulen schreien. Der Polarfuchs weint wie ein Kind und horcht nach Wühlmäusen unter der Schneekruste.
Manchmal gehen sie nach unten in die Küche. Essen Reste von Schneehuhnbrust, Saibling, Rentierfilet mit kalter Soße und Gelee, Sülze, Brot aus hellem Mehl. Sie trinken echte Kuhmilch oder Bier. Liebe macht hungrig.
Die Menschen in Kiruna sind es nicht gewöhnt, ihren Bergwerksdirektor so oft zu sehen. Er treibt sich in der Welt herum. Fährt immer wieder nach Stockholm. Und auch ins Ausland. Nach Deutschland, nach Amerika und Kanada.
Zum Beispiel war er im Sommer sonst nie in Kiruna. Dass es noch zu Mittsommer schneit, kann er zwar ertragen. Schlimmer aber sind die vielen Mückensorten, diese blutsaugerischen Quälgeister.
Aber im Sommer 1914 überrascht er die Leute in Kiruna damit, dass er den ganzen Sommer hindurch im Bergwerksort bleibt. Man denkt, es läge am Krieg. Am 28. Juni werden Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo auf offener Straße erschossen. Danach hagelt es Kriegserklärungen. Für das Bergwerk in Kiruna bedeutet das gute Geschäfte. Der König von Lappland ist strahlender Laune.
Aber nicht, weil die Kasse klingelt. Er liebt. Das ist es.
R EBECKA M ARTINSSON WANDERTE durch die Dunkelheit nach Hause. Sie dachte daran, was Sivving über Sol-Britts Familie erzählt hatte. Der Vater, von einem Bären angefallen und gefressen. Der Sohn überfahren. Die Großmutter, die Lehrerin, die mit keinem Geringeren als Hjalmar Lundbohm ein Verhältnis hatte, ermordet. Und Sol-Britt selbst mit einer Heugabel erstochen.
Sie holte das Telefon aus dem Auto. Ein verpasster Anruf von Måns. Er hat auf die Mailbox gesprochen. »Hallo, ich bin’s. Ruf an, wenn du Zeit hast.«
Mehr nicht.
Was soll das, »ruf an, wenn du Zeit hast«, dachte sie, erfüllt von einem Gemisch aus Schuldgefühlen und Zorn und dem Bedürfnis, sich gegen einen Vorwurf zu verteidigen, von dem er bestreiten würde, ihn je ausgesprochen zu haben.
Sie könnte einen ganzen Aufsatz über diese Nachricht schreiben.
Es ist, als ob er sich rächt, dachte sie und stieg die Treppe hoch.
Rotzwelpe sprang vor ihr her. Ließ vor der Tür zu ihrer Wohnung im Obergeschoss den Schwanz peitschen. Genau so erwartungsfroh, weil er ins Haus durfte, wie dann, wenn er heraus durfte.
Wofür rächt er sich, überlegte sie weiter und horchte auf das Zischen der brennenden trockenen Birkenrinde, während sie im Schlafzimmerofen einheizte.
Sie putzte sich die Zähne und schminkte sich ab. Rotzwelpe lag schon in ihrem Bett.
Dafür, dass sie nicht angerufen hatte. Dass sie sich am Telefon nicht gemeldet hatte. Sie müsste ihn jetzt anrufen. Aber sie wollte nicht. »Wenn du Zeit hast« hatte ihr die Freude daran verdorben.
Verdammt noch mal, dachte sie. Warum kann er nicht einfach schreiben: »Du fehlst mir«?
Sie schrieb eine SMS : »Müde, ganzen Abd. gearbt. Muss schlafen gN.«
Dann schrieb sie »gN« aus: »gute Nacht«. Sie überlegte, ob sie ein »liebe dich« hinzufügen sollte, ließ es aber. Sie schickte die SMS ab und schaltete dann das Telefon aus. Zog auch den Stecker des Festanschlusses heraus.
Und sie stellte auch den Wecker nicht. Am nächsten Morgen würde sie nicht zur Arbeit gehen.
Ihre Gedanken landeten bei Carl von Post und bei ihrem Chef, Alf Björnfot. Es war Arbeitsverweigerung, dass sie ihre Verhandlungen am nächsten Morgen nicht übernahm.
Sollen sie sich doch zum Teufel scheren, dachte sie wütend.
Sie schloss die Augen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Rotzwelpe wurde es zu warm, er sprang
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