Denn niemand hört dein Rufen
Straße. Das hat er sich ganz sicher nicht von seinem Gehalt als Staatsanwalt leisten können, dachte Emily. Freilich ist
er Sozius in der prestigeträchtigen Anwaltskanzlei seines Schwiegervaters gewesen, bevor er Staatsanwalt wurde. Aber das große Geld kam, wie sie wusste, eigentlich von seiner Frau Nancy. Ihr Großvater mütterlicherseits war der Begründer einer Kette von Nobelkaufhäusern gewesen.
Emily ließ den Wagen nahe der Rotunde am Ende der Auffahrt stehen. Der Abend war kühl geworden, und als sie ausstieg, atmete sie ein paarmal tief die frische Luft ein. Das tat gut. Ich bin in letzter Zeit kaum draußen gewesen, dachte sie. Dann beschleunigte sie ihren Schritt. Sie hatte keine Jacke mitgenommen und hätte jetzt gut eine brauchen können.
Doch sie war froh, dass sie sich für die Seidenbluse mit dem auffälligen Muster entschieden hatte. Sie wusste, dass sich nach den vielen Überstunden die Müdigkeit auf ihrem Gesicht abzeichnete. Mit sorgfältig aufgetragenem Make-up hatte sie es ein wenig zu kaschieren versucht. Die kräftigen Farben ihrer Bluse sollten das Ihrige dazu tun. Wenn der Prozess vorbei ist, werde ich erst mal ein paar Tage Urlaub nehmen, egal, wie viel sich auf meinem Schreibtisch stapelt, beschloss sie, als sie auf den Klingelknopf drückte.
Ted öffnete selbst die Tür, bat sie ins Haus und sagte bewundernd: »Sie sehen heute Abend blendend aus, Frau Staatsanwältin.«
»Dem kann ich nur beipflichten«, sagte Nancy Wesley, die ihrem Mann zur Haustür gefolgt war. Sie war eine schlanke, blonde Frau Ende vierzig, mit der unverkennbaren Ausstrahlung eines Menschen, der von Geburt an Reichtum und Privilegien gewohnt war. Doch ihr herzliches Lächeln war echt, und sie ergriff Emilys Hände, als sie ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte. »Außer
Ihnen haben wir nur drei Freunde eingeladen. Ich bin sicher, dass Sie sie mögen werden. Kommen Sie, ich stelle sie Ihnen vor.«
Es gelang Emily noch, einen schnellen Blick auf die Eingangsdiele um sie herum zu werfen, bevor sie den Wesleys folgte. Sehr beeindruckend, dachte sie. Doppelläufige Marmortreppe. Empore. Kristalllüster. Zum Glück habe ich das Richtige angezogen. Ebenso wie sie trug Nancy Wesley eine schwarze Seidenhose und eine Seidenbluse. Der einzige Unterschied war, dass ihre Bluse in einem pastellblauen Ton gehalten war.
Drei andere Gäste, dachte Emily. Sie befürchtete, dass die Wesleys einen alleinstehenden Mann als eine Art Tischnachbarn für sie eingeladen hatten. Im vergangenen Jahr hatte sie das unter anderen Umständen schon mehrfach erlebt. Und weil ihr Mark immer noch furchtbar fehlte, hatte sie das jedes Mal nicht nur als belästigend empfunden, es hatte auch ihren Schmerz wieder wachgerufen. Ich hoffe nur, dass ich eines Tages wieder bereit dafür sein werde, aber davon bin ich noch weit entfernt. Sie versuchte, ein gequältes Grinsen zu unterdrücken. Selbst wenn ich bereit gewesen wäre, erinnerte sie sich, von den komischen Vögeln, die sie mir bisher zugedacht haben, wäre kein einziger infrage gekommen!
Erleichtert stellte sie fest, dass die Gäste im Wohnzimmer ein Mann und eine Frau waren, beide ungefähr Anfang fünfzig, die auf einer Couch neben dem Kamin saßen, und eine etwas ältere Frau, die Emily auf Ende sechzig schätzte und die in einem Sessel saß. Sie erkannte den Mann, Timothy Moynihan, ein Schauspieler, der in einer langjährigen Abendserie im Fernsehen mitwirkte. Er spielte den Chefarzt eines Krankenhauses.
Ted machte ihn und seine Frau Barbara mit Emily bekannt.
Emily begrüßte zunächst seine Frau und fragte dann Moynihan lächelnd: »Soll ich Sie mit ›Herr Doktor‹ anreden?«
»Ich bin nicht im Dienst, also nennen Sie mich einfach Tim.«
»Dasselbe gilt für mich. Bitte nennen Sie mich doch Emily.«
Ted wandte sich dann der älteren Frau zu: »Emily, das ist eine liebe Freundin von uns, Marion Rhodes – und sie ist auch im wirklichen Leben ein Doktor, sie ist Psychologin.«
Emily begrüßte auch sie, und einen Augenblick später saß sie in der Runde und nippte an einem Glas Wein. Sie spürte, dass die Anspannung allmählich von ihr wich. Was für ein kultiviertes geselliges Beisammensein, dachte sie. Es gibt also wirklich noch ein Leben abseits des Aldrich-Prozesses, und sei es auch nur für einen Abend.
Als sie das Esszimmer betraten und Emily den wunderschön gedeckten Tisch erblickte, dachte sie kurz daran, dass fast ihre gesamten kulinarischen Genüsse der
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