Denn Wahrheit musst du suchen
spät war.
Sylvain wird ihr helfen. Er stand ja direkt neben ihr. Bestimmt kümmert er sich um sie. Er weiß ja, dass sie völlig untrainiert ist.
Immer wieder versuchte sie, sich umzudrehen, um zu sehen, ob die anderen noch hinter ihnen waren, doch Carter hielt ihre Hand so fest und bewegte sich derart schnell durch das unwegsame Gelände, dass alles vor ihren Augen verschwamm, zumal es dunkel war.
Als sie über den Bach sprangen, knackte ein Zweig laut unter ihrem Fuß. Allie zuckte zusammen und lief weiter – fürs Leisesein hatten sie jetzt keine Zeit. Jetzt kam es nur auf Schnelligkeit an.
Ihre Lunge brannte wie Feuer, und mit jedem Schritt fuhr der Schmerz in ihr Knie – Carters Tempo war erbarmungslos. Ohne auf Äste und Steine zu achten, die grob nach ihren Armen und Gesichtern griffen oder unter ihren Füßen wegstoben, brachen sie durch den vertrockneten Farn und das winterlich abgestorbene Unterholz. Sie waren bestimmt schon fast einen Kilometer gelaufen, und Allie fragte sich allmählich, wie lange sie noch durchhalten würde, als sie eine natürliche Senke erreichten, die durch einen umgestürzten Baum geschützt war. Carter sprang hinein und zog Allie mit sich, hinunter auf den Waldboden.
Dann war es überall still.
Lange Minuten lagen sie so da, ohne sich zu bewegen. Allie lauschte nach Schritten, doch so sehr sie die Ohren spitzte, der Wald gab nichts preis. Ein leichter Windhauch blies durch die Äste hoch über ihnen und ließ sie leise rauschen.
Als der Wind kurz darauf abebbte, konnte sie nur noch das Hämmern ihres Herzens und ihre angestrengten Atemzüge hören.
Sie waren völlig allein.
Langsam beruhigte sich ihr Atem, und sie nahm ihre Umwelt wieder wahr. Sie spürte Carters Gewicht – er lag fast auf ihr, einen Arm über ihre Schultern geworfen, den Kopf in den kalten, lehmigen Boden neben ihr gepresst.
Sie spürte, wie sich sein Oberkörper mit jedem Atemzug hob und senkte; seine Körperwärme durchdrang die Kälte, die vom feuchten Waldboden ausging.
Darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, drehte sie langsam den Kopf nach rechts – bis sie sein Gesicht sehen konnte. Er lag ruhig da und betrachtete sie unverwandt.
Allie wusste nicht, wie lange sie dort nun schon reglos dalagen und einander einfach anstarrten und nach irgendwelchen Anzeichen lauschten, dass ihnen jemand gefolgt war. Anfangs zählte sie ihre Atemzüge, doch irgendwann verlor sie den Überblick. Carters Nähe lenkte sie ab. Sie war sich überdeutlich bewusst, dass seine Hand zwischen ihren Schulterblättern ruhte. Und wie er sie anschaute.
Schließlich ließ er seine Hand über ihren Rücken nach unten wandern.
Wieso macht er das jetzt?
Ihr stockte der Atem.
Jetzt bloß vernünftig bleiben. Wir verstecken uns hier nur gemeinsam
, ermahnte sie sich.
Mehr ist da nicht. Er ist nur nett zu mir.
Doch auch Carters Atem klang nun deutlich angestrengter, und seine Muskeln spannten sich an.
Allie wollte ihn eigentlich gar nicht küssen. Später sollte sie sich nicht mehr erinnern, wie es überhaupt dazu gekommen war. Irgendwie war ihr Mund plötzlich auf seinem.
Carters Lippen fühlten sich so vertraut an, dass es Allie einen Stich versetzte. Sie hatte ganz vergessen, wie gut seine Küsse schmeckten und wie warm sich sein Körper anfühlte. Er schlang seine Arme um ihre Schultern – und sie fühlte sich sofort sicherer, warm und geborgen. Sie ließ sich in seine Umarmung sinken, während er sie fest an sich zog.
In seinen Armen versuchte Allie, alles zu vergessen, was passiert war – selbst wo sie gerade waren und warum. Sie brauchte das jetzt so sehr. Sie wollte begehrt werden. Sie wollte alles vergessen und einfach ein paar Minuten lang wieder das Wichtigste in irgendjemandes Leben sein.
Doch ihr Verstand ließ das nicht zu. Immer wieder sah sie den verletzten Gesichtsausdruck vor sich, den Jules gehabt hatte, als sie begriff, dass sie nicht mitmachen durfte. Wie verloren sie gewirkt hatte.
Stell dir mal vor, wie unglaublich weh ihr das tun würde, wenn sie davon wüsste
, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.
Wie würdest du dich wohl an ihrer Stelle fühlen?
Bei dem Gedanken an Jules’ Schmerz drehte sich ihr der Magen um.
Keine so gute Idee.
Carter und sie hatten gerade erst begonnen, ihre Freundschaft vorsichtig wiederaufzubauen. Das hier konnte alles wieder kaputt machen. Wie würden sie sich verhalten, wenn sie sich morgen wieder auf dem Flur begegneten? So tun, als wäre nichts
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