Denn wer zuletzt stirbt
glühenden Wangen vom Punsch und voller Übermut von der vielen frischen Luft. Ohne die Schneestiefel auszuziehen bestand Celine auf einer zweiten Schlittenfahrt, diesmal war ich der Schlitten. Und nachdem wir uns von dieser Berg-und-Talfahrt erholt hatten, mußte Celine als Schlitten herhalten. Einmal meinte ich sogar, Schlittenglöckchen zu hören.
Am folgenden Morgen gab ich Celine meine Liste mit den sechsunddreißig Toten. Das Wochenende stehe vor der Tür, meinte sie, eine gute Zeit, ihr mieses Gehalt als Teilzeitlehrerin aufzubessern und sich mal wieder als Versicherungsmaklerin auf die Socken zu machen.
Als ich nun überlegte, wie mein Wochenende ohne Klinik und ohne Celine sinnvoll zu gestalten sei, ob mit dem Diktieren von Abschlußberichten an die Hausärzte, dem Studium der aktuellen Fachjournale oder ausführlicher Beschäftigung mit der TV-Fernbedienung, wußte ich nicht, daß es auch für mich noch eine Kleinigkeit in petto hatte.
5
Als der Anruf am frühen Sonntagmorgen kam, dachte ich zuerst an einen von diesen Stöhnern, der sich sowohl in der Telefonnummer wie auch in der Tageszeit geirrt hatte. Aber dann brach das ohnehin ziemlich schwache Stöhnen plötzlich ab, ich vernahm ein dumpfes Poltern, ohne daß aufgelegt wurde.
Nach einer Weile fiel der Groschen: Tante Hilde! Ich hatte für den Notfall meine Nummer in ihr Telefon programmiert. Das schien mir zuverlässiger als diese Geschichten von Hunden, die Herrchen oder Frauchen das Leben gerettet hatten, weil die Nachbarschaft endlich der Ursache für das Kläffen in der Nachbarwohnung auf den Grund gehen beziehungsweise in Wirklichkeit dem Dauerkläffer den Hals umdrehen wollte. Tante Hildes Hund ist zwar auch ein ausgezeichneter Kläffer, aber ihre Nachbarin mindestens ebenso taub wie sie selbst und, an sein impertinentes Kläffen gewöhnt. Unrasiert stürzte ich aus dem Haus.
Tante Hilde lag neben dem Telefon, die Augen offen, aber zu schwach zum Sprechen. Das rechte Bein stand in einem unnatürlichen Winkel zu ihrem dürren Körper, der sich kantig unter ihrem Nachthemd abzeichnete. Oberschenkelhalsfraktur, der typische Knochenbruch alter Menschen. Ein kurzes Stolpern, ein Sturz, und schon bricht der Kopf vom osteoporosemorschen Oberschenkelknochen ab.
Ich schob ihr Nachthemd zum Becken hoch und betrachtete mir die Bescherung: Sie hatte Glück gehabt, der Oberschenkel war nur wenig geschwollen, wenigstens also keine Einblutung, kein größeres Gefäß schien verletzt. Aber die Haut fühlte sich an, als hätte meine Tante die Nacht in der Tiefkühltruhe verbracht, und zeigte daneben alle Zeichen der fortgeschrittenen Austrocknung. Wahrscheinlich war Tante Hilde in der Küche gestürzt oder im Flur, dank des von mir immer noch nicht reparierten Lichtschalters. Vielleicht aber auch im Bad, dann träfe mich keine Schuld. Wo auch immer sie hingeschlagen war, hatte sie sicher Stunden gebraucht, um sich bis an ihr Bett zum Telefon zu robben. Vielleicht lag sie hier schon seit gestern. Ihre liebe Trixi sah keinen besonderen Grund zur Aufregung. Offensichtlich zufrieden, endlich über die gesamte Lagerstatt zu verfügen, verfolgte der Wauwau meine Aktivitäten mit müde gelangweilten Hundeaugen von Hildes Bett aus.
Ich konnte nicht viel mehr tun, als Hilde unter ein paar Decken vor weiterer Auskühlung zu schützen und einen Krankenwagen zu rufen. Während ich darauf achtete, daß die engagierten Helfer vom Roten Kreuz beim Umlagern auf die Trage das Bein nicht noch weiter verdrehten, kündigte ich unser Kommen in der Klinik an.
Wir erreichten die Humana-Klinik ohne Stau oder Verkehrsunfall und mit Tante Hilde in einem Stück. Valenta erwartete uns bereits auf der Intensivstation. Diesmal waren wir uns einig: Natürlich müßte man den Bruch schnellstmöglich operieren, aber erst einmal mußte Hilde in einen operationsfähigen Zustand kommen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, wenn man als Arzt einen Angehörigen in der eigenen Klinik hat: Man kümmert sich um alles selbst und läßt sonst niemanden an seinen Angehörigen heran, oder man kümmert sich um nichts und hält, außer zu den offiziellen Besuchszeiten, einen Mindestabstand von fünfzig Metern zum Familienmitglied ein. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß ich mich instinktsicher für Möglichkeit Nummer drei entschied.
»Vergeßt nicht, die Infusionen vorzuwärmen!«
»Denkt daran, rechtzeitig Blut zu bestellen!«
»Macht dem Labor Dampf!«
»Seid bloß vorsichtig beim
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