Denn wer zuletzt stirbt
Würde mißachtet. Natürlich, manchmal verhielten sie sich wirklich kindisch, so wie heute. Das mit der Altersweisheit ist eine Mär, alte Leute sind nicht weise. In der Regel sind sie kindisch, rechthaberisch, egoistisch. Aber trotzdem, sie verdienten einen besseren Arzt. Einen Arzt, der ihre Würde respektiert.
Während meine Patienten ungläubig mein Gesicht studierten oder wie ausgescholtene Kinder auf ihre Teller starrten und ich mich nach Hause sehnte oder noch weiter weg, ging plötzlich hinter mir die Tür auf.
»Milchreis für alle!«
Auftritt von Schwester Käthe mit einer großen Schüssel dampfendem Milchreis, im Schlepptau eine Schwesternschülerin mit gekochtem Mischobst und neuen Tellern. Sofort nahmen selbst meine Alzheimer-Patienten wieder ihre Plätze ein, zufriedene Gesichter überall. Schwester Käthe ist unersetzlich!
Noch immer sauer, war ich drauf und dran, demonstrativ Frau Konrads Steak zu verputzen. Aber Käthe stellte auch mir einen Teller Milchreis mit Backobst vor die Nase, und ich langte zu, mit Genuß. Erinnerung an fröhliche Kindergeburtstage! Wieder friedlich und zufrieden saßen wir zusammen und löffelten brav unsern Milchreis, die große Familie der geriatrischen Abteilung.
Trotzdem, Schmitz würde ich bei der nächsten Gelegenheit entlassen!
Sonntagabend ist ein fester Termin – gemeinsames Kochen und Essen mit Celine. Auch der Ort dieser Veranstaltung steht fest, gekocht und gegessen wird bei Celine. Da ich in der Regel den Einkauf und das Kochen übernehme, bleibt für Celine der Abwasch. Das ist keine sexistische Regelung, sondern eine pragmatische. Kochen gehört einfach nicht zu Celines Stärken.
Aber als ich gegen sieben mit meinen frischen Seezungenfilets, Crème Fraîche, Dijonsenf, Petersilie, Knoblauch und dem Chardonnay aus Südafrika vor Celines Tür stand, mußte ich mir die Wohnung selbst aufschließen. Sie meldete sich telefonisch, während ich gerade den Knoblauch und die Petersilie hackte und berichtete, daß sie gerade »einen dicken Fisch an der Angel« hätte, aber noch Zeit bräuchte, »die Leine einzuholen«.
Richtig, Celine war heute als Versicherungsagentin unterwegs. Eigentlich, um die Verbindung zwischen meiner Klinik und dem Makler Manfred Marske zu ermitteln. Um so besser, wenn auch noch ein paar Aufträge für sie heraussprängen. Jedenfalls, ein dicker Fisch und eine lange Leine, also kein Dinner heute. Petersilie und Knoblauch kamen in den Abfall, die Seezungenfilets in die Tiefkühltruhe. Letztlich kam mir das nicht ganz ungelegen, hatte ich mir doch heute mittag eine ziemlich kräftige Portion Milchreis mit Backobst gegönnt.
Den Wein nahm ich zur Strafe wieder mit nach Hause. Kurz danach meldete sich die Klinik. Keine Komplikation bei der Operation von Tante Hilde, sie läge jetzt wieder auf der Intensivstation, aber wohl nur bis morgen früh, wenn weiterhin alles gut laufen würde. Ich holte mir den Chardonnay aus dem Kühlschrank und genehmigte mir einen ruhigen Fernsehabend. In einer Ecke meines Schädels wollte mich eine leise Stimme an irgend etwas erinnern, das unbedingt noch zu erledigen sei. Aber wir kamen beide nicht darauf, um was es da ging.
Es fiel mir erst am Montag ein. Auf dem Weg zur Klinik sprang mir ein Hund vor den Wagen, allein meine Vollbremsung rettete ihm das Leben. O Gott – was war mit Hildes abartigem Kläffer? Ich hatte ihn gestern total vergessen, nun saß die liebe Trixi schon über vierundzwanzig Stunden allein in der Wohnung.
Ich zähle mich zu den glücklichen Menschen, die ohne Handy leben dürfen. Aber heute morgen mußte ich deshalb eine Telefonzelle suchen, und auch noch ein inzwischen fast exotisches Exemplar, das mit Münzen funktionierte. Kurz erklärte, ich Schwester Renate, daß ich mich verspäten würde. Kein Problem, meinte sie, alles ruhig an der Front.
Ich schloß Tante Hildes Wohnungstür auf. Zu hören war nichts. Was erwartete mich? Über die ganze Wohnung verteilte nasse Flecken und Exkremente, frische und angetrocknete? Ein verdursteter Hund? Oder eine durch Hunger und Angst in den Wahnsinn getriebene Bestie? Nichts von alledem. Trixi schlief gemütlich in Hildes Bett. Als sie mich hörte, schoß sie allerdings sofort hoch und rannte in Richtung Balkontür. Auch gut, sollte sie doch wie üblich auf den Balkon pinkeln. Wir waren in Eile.
Trixi schien nicht besonders angetan von der Idee, mit mir zu kommen. Immerhin zeigte sie sich clever genug, die Schnauze zu halten, als ich sie,
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