Denn wer zuletzt stirbt
Risiko aus, auch nicht gepreßte Hühnerabfälle.
»Wenn das stimmt, wird es schwierig für uns. Ich kann nicht gut alle Todesfälle der letzten Jahre aufrollen! Immerhin haben wir es auf meiner Station mit sehr alten Menschen zu tun, die überdies krank sind. Von ›plötzlich und unerwartet‹ kann da kaum die Rede sein.«
»Felix! Genau darauf spekuliert unser Mörder!«
Bei Celine ging es also schon um »unseren« Mörder! Ich versuchte, ihren Enthusiasmus zu dämpfen.
»Paß auf, Celine. Nehmen wir einmal an, ich besorge mir die Krankenakten von allen Patienten, die im vergangenen Jahr auf meiner Station verstorben sind. Auch wenn ich den Krankheitsverlauf Seite für Seite durcharbeite, werde ich höchstwahrscheinlich auf nichts Ungewöhnliches stoßen. Ebensowenig, wie ich in den Unterlagen von Winter und Kiesgruber irgend etwas Verdächtiges gefunden habe.«
Celine gönnte mir ihr Mona-Lisa-Lächeln.
»Vielleicht nicht in den Akten. Aber es könnte doch ein Muster geben.«
Sie erklärte es mir mit der Geduld einer erfahrenen Lehrerin und dem professionellen Optimismus, daß bei ausreichend einfacher Erklärung auch einer ihrer etwas schwächeren Schüler den Lösungsweg am Schluß verstehen würde.
Sie teilte meine Meinung, daß ich bei dem Alter meiner Klientel in den Krankenakten wahrscheinlich kaum überzeugende Spuren unerwarteter Todesfälle oder auffälliger Todesumstände finden würde. Ich sollte mich vielmehr mit den Aufnahmebögen beschäftigen, in denen die Klinik Adresse, Familienstand und so weiter festhält. Leider fehlt zwar die Rubrik: schöne Wohnung, bei Tod freiwerdend, aber man kann dem Aufnahmebogen natürlich entnehmen, ob die Adresse des Patienten mit der des zu informierenden Angehörigen übereinstimmt.
»Wir suchen uns also nur jene Todesfälle heraus«, schlug Celine vor, »bei denen dies nicht der Fall war. Und ganz besondere Beachtung schenken wir den Toten, die in einer schönen Gegend gewohnt haben.«
Während ich noch überlegte, wie ich die Damen im Patientenarchiv dazu bekäme, die Akten aller Todesfälle aus dem letzten Jahr herauszusuchen, klaute mir Celine den letzten Riegel zwangsernährtes Preßhuhn.
»Mach dich an die Arbeit, Felix!«
Am nächsten Morgen fiel mir ein, daß ich das Archiv gar nicht brauchen würde – schließlich leben wir im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung! Da ich mich ein wenig mit unserer Klinik-EDV auskenne, kam ich ziemlich rasch an meine Toten. Immerhin, hundertvier Patienten waren im vergangenen Jahr auf meiner Station verstorben, im Durchschnitt zwei pro Woche. Der Todestag wird zwar unter »Datum der Entlassung« erfaßt, aber es folgt die Rubrik »Verbleib nach Entlassung: a) häusliche Umgebung b) Verlegung (wohin?) c) Exitus.« Die Rubrik »hat gleich vor dem Krankenhaus seine Krücken weggeworfen, ist direkt zum Flughafen gefahren und nach Florida/ Südamerika/Tibet geflogen, lebt seitdem dort glücklich und zufrieden« ist nicht vorgesehen. Ist leider auch noch nicht vorgekommen.
Die EDV kennt auch Namen und Adresse der »im Notfall zu informierenden Angehörigen«, die ich mit der letzten Adresse der verstorbenen Patienten verglich. Das Patientenarchiv mußte ich vorerst nur um die Suche nach etwa zwanzig Akten bitten, in denen sich unter »Verbleib nach Entlassung« kein Eintrag fand. Diese Patienten konnten ebensogut verstorben wie mit dem Verjubeln ihrer Rente beschäftigt sein. Vielleicht wird angenommen, als behandelnder Arzt solle ich mich wenigstens an meine Todesfälle erinnern. Aber ein Arztgehirn funktioniert auch nicht anders als das seiner Mitmenschen und erinnert sich weit besser an seine Erfolge als an seine Mißerfolge, wirklich sicher war ich mir nur in drei Fällen. Also – auf zum Archiv!
Bei einem unbestechlichen Doktor wie mir ist der Schrank zu jeder Jahreszeit gut gefüllt mit Konfekt, Wein und Sekt von Patienten, die damit auf ein bißchen Extramotivation für ihren Stationsarzt spekulieren. Mit Hilfe einer kleinen Auswahl aus diesem Sortiment dauerte es nur eine knappe Woche, bis ich die Akten ohne die Angabe »Verbleib nach Entlassung« in den Händen hielt. Zusammen mit den über die EDV geklärten Fällen kam ich damit schließlich auf sechsunddreißig Tote, die das Kriterium »keine Angehörige unter derselben Adresse« erfüllten.
Es war Freitag, gegen sechs Uhr abends, als ich meine Liste mit den sechsunddreißig Namen fertig hatte. Eine gute Zeit, schien mir, es gleich einmal
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