Denn wer zuletzt stirbt
hinüber zum Operationstrakt.
Es war inzwischen Sonntagmittag, aber nun ohnehin in der Klinik, beschloß ich, auf meiner Station vorbeizuschauen. Irgendwo mußte ich schließlich mein angestautes Helfer-Adrenalin abbauen. Eine Idee, die sich schnell als Fehler erwies. Schon im Treppenhaus schlug mir dieses eigenartige Geräusch entgegen. Irgendwie schien es mir bekannt, ich konnte es allerdings nicht gleich einordnen. Dann fiel es mir ein: Ich kannte den Lärm aus US-Filmen mit Handlungsort Alcatraz oder St. Quentin, wenn wütende Häftlinge im Speisesaal mit Besteck und Blechgeschirr demonstrieren. Es war exakt das gleiche Geklapper, wenn auch nicht ganz so aggressiv. Und es kam aus dem Speisesaal auf meiner Station.
Dort bot sich mir ein ziemlich grotesker Anblick. Meine Patienten saßen vor ihren vollen Tellern an den Vier-PersonenTischchen und klopften mit ihrem Besteck im Takt auf die Tischplatte, besonders kräftig meine Alzheimer-Jungs und -Mädchen. Es schien ihnen zu gefallen.
»Da sind Sie ja, Doktor. Stecken Sie hinter diesem Anschlag?« fragte Dauerpatient Schmitz, der immer prompt einen neuen Harnwegsinfekt bekommt, wenn ich ihn entlassen will.
»Was für ein Anschlag? Was ist hier überhaupt los?«
»Haben Sie keine Augen im Kopf, Doktor? Oder wollen Sie nichts sehen?«
Angestrengt ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Das gemeinsame Essen im Speisesaal für alle Patienten, die nicht bettlägerig waren, klappte gut. Es gab meinen Schutzbefohlenen etwas mehr Würde als das Löffeln und Schlürfen an der Bettkante, und es entlastete das Personal. Wir baten die Patienten auch, sich zum gemeinsamen Essen etwas Ordentliches anzuziehen, ebenfalls um die Moral zu heben, doch diese Empfehlung wurde nicht von allen befolgt. Sicher also, mich störte der Anblick von offenen Bademänteln, spindeldürren Männerbeinen und schlaffen Brüsten am Mittagstisch, aber den Grund für den kollektiven Aufstand konnte ich nicht finden.
Schmitz hielt seine Gabel hoch, am Ende ein für Krankenhausbegriffe ziemlich lecker gebratenes Steak.
»Für Sie auch eine schöne Portion BSE, Doktor?«
Ich war platt. Die Verkaufszahlen für Rindfleisch hatten sich vollkommen erholt, die BSE-Hysterie in Deutschland war lange vorüber. Nicht aber, so schien es, auf der Chronikerstation C4.
»Mit uns könnt ihr es ja machen!«
Schmitz kam in seiner Position als Rädelsführer langsam in Fahrt. Immer noch fuchtelte er mir mit seiner Gabel vor der Nase herum.
»Ist bestimmt billiger, als das Zeug ordnungsgemäß zu entsorgen.«
Beifallheischend schaute er sich im Speisesaal um und bereitete das übliche Totschlagargument vor.
»Wie ist das mit den Privatpatienten? Bekommen die heute auch ihre Portion BSE?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Das war die Wahrheit. Außerdem war mir die Sache zu lächerlich. Sicher, weder Deutschland noch die EU hatten so prompt reagiert wie die Produzenten von Haustierfutter, die bereits seit Anfang der neunziger Jahre kein Rindfleisch aus England in ihre Dosen abfüllten. Und als man Ende 2000 endlich anfing, auch unsere Rinder auf BSE zu testen, hatte sich zur Überraschung der amtlichen Stellen auch Deutschland als BSE-betroffen erwiesen. Inzwischen aber wurde längst auch jedes für uns Menschen zum Verzehr vorgesehene Schlachtrind auf BSE untersucht, außerdem hat BSE, beziehungsweise die Creutzfeldt-Jakob-Variante, eine Inkubationszeit von Jahren bis Jahrzehnten. Kaum denkbar, daß einer dieser Leute in den offenen Bademänteln und bekleckerten Nachthemden ihren Ausbruch erleben würden, selbst wenn man sie kiloweise mit Prionen fütterte. Eher konnte ich mir schon vorstellen, daß es sich bei ein paar meiner Alzheimer-Patienten in Wirklichkeit um Creutzfeldt-Jakob handelte.
Freundlich lächelnd schob mir Frau Konrad ihren Teller entgegen.
»Kennen wir uns nicht aus Biarritz? Small world!«
Dieser Sonntag stand mir inzwischen bis zum Hals, ich drohte, in der allgemeinen Dankbarkeit zu ertrinken: Tante Hilde hatte ich vor dem Erfrierungstod bewahrt und mich ihretwegen meinen Kollegen gegenüber zum Narren gemacht, sie aber war sauer, daß ich sie überhaupt in die Klinik geschleppt hatte.
Und nun probte auch noch mein Altersheim den BSE-Aufstand!
»Kein Problem. Dann gibt es heute eben kein Mittag. Die meisten von euch sind sowieso zu fett.«
Großartig, eine tolle Ansprache! Ich hatte gegen meine Prinzipien verstoßen, hatte meine alten Leute wie unmündige Kinder behandelt, ihre
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