Denn wer zuletzt stirbt
mehr. Seltsam aber, daß erstmals nach Monaten ein Angehöriger den Herrn Stationsarzt zu sprechen wünschte. Immerhin hatte Winter neulich eine Großnichte erwähnt.
»Kein Problem. Gehen wir in mein Zimmer.«
Ich befreite meinen Besucherstuhl von den Akten, die ich dank Trixis Eifer noch einmal diktieren durfte, und versuchte abzuschätzen, wie direkt ich Simone Simons über die letztlich schlechte Prognose ihres Großonkels informieren sollte. Sie machte einen taffen Eindruck, aber in dieser Hinsicht hatte ich mich auch schon getäuscht. Also wartete ich ab, wie sie beginnen würde.
»Geben Sie meinem Großonkel Drogen?«
Ein ungewöhnlicher Beginn für ein Arzt-Angehörigen-Gespräch.
»Ihr Großonkel bekommt Medikamente. Und zwar die, die er braucht. Er ist ein kranker Mann.«
Automatisch war ich in die Defensive gegangen.
»Ich meine nicht Medikamente gegen seine Krankheit. Ich spreche von Pillen oder Spritzen mit Einfluß auf sein Bewußtsein, die seine Fähigkeit zum logischen Denken beeinträchtigen. Bekommt er solche Sachen?«
Mir war noch nicht klar, worauf diese forsche junge Frau hinaus wollte, aber offensichtlich hatte ich zu Recht auf Defensive geschaltet.
»Ihr Großonkel hat Prostatakrebs. Prostatakrebs ist in seinem Alter nicht selten, und, einer der wenigen Vorteile des Alters, wächst bei alten Menschen sehr langsam. Oft ein Haustierkrebs, wie Hackethal immer sagte. Aber Ihr Großonkel hat Knochenmetastasen. Da hat man Schmerzen. Schmerzen, die ich mir nicht wünsche und Ihnen auch nicht. Deshalb bekommt er Schmerzmittel. Und tatsächlich können Schmerzmittel das Denkvermögen beeinträchtigen.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Ich verstehe Ihren aggressiven Ton nicht. Sollen wir Ihrem Großonkel Ihrer Meinung nach keine Schmerzmittel geben?«
»Es geht nicht um Schmerzen, meine ich. Sie haben meinen Großonkel so lange mit Drogen vollgepumpt, bis er sein Testament zu Ihren Gunsten geändert hat.«
Manchmal habe ich wirklich eine verdammt lange Leitung! Ich hatte mal wieder gedacht, es ginge um den Patienten, um die Sorge einer Angehörigen, daß wir Fehler bei der Behandlung machen. Aber hier hatten wir es mit einer enttäuschten Erbin zu tun, besser, mit einer enttäuschten Enterbten. Als Großnichte konnte sie nicht einmal einen Pflichtteil am Erbe erwarten. Und jetzt war sie sauer. Stocksauer.
Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, beugte sie sich weit über den Schreibtisch zu mir. Es war nicht meine Schuld, daß ich ihr jetzt direkt in den Ausschnitt schauen mußte. Ich wandte die Augen ab, während Frau Simons fortfuhr.
»Sie haben eben selbst zugegeben, daß Sie meinen Großonkel mit Ihren Pillen um den Verstand gebracht haben. So konnten Sie ihn leicht zu einem neuen Testament beschwatzen. Und bei den Knochenmetastasen brauchen Sie wahrscheinlich nicht einmal lange zu warten.«
»Blödsinn. Niemand hat Ihren Großonkel zu irgend etwas beschwatzt.«
»So. Und was tun Sie für meinen Großonkel, außer ihn mit Schmerzmitteln abzufüllen? Was tun Sie gegen den Prostatakrebs? Gegen die Metastasen?«
Doch eine besorgte Angehörige? Ich erklärte ihr die Optionen. Den Prostatakrebs bei Metastasen herauszuoperieren ist Schwachsinn. Gegengeschlechtliche Hormonbehandlung und Bestrahlung im Prostatabereich hatten den Krebs nicht zerstört, einen neuen Zyklus hatte Winter abgelehnt. Die Knochenmetastasen könnte man wieder bestrahlen oder, allerdings mit fraglicher Wirkung, mit Chemotherapie behandeln. Hatte er aber ebenfalls abgelehnt. Also konzentrierten wir uns auf die Symptome, seine Probleme mit dem Wasserlassen, seine Schmerzen. Und wenigstens die hatten wir mit Medikamenten und Schmerzbestrahlung auf die Knochenmetastasen ganz gut im Griff.
»Schmerzbestrahlung? Sie weigern sich, den Krebs mit Strahlen zu zerstören, aber behandeln die Schmerzen mit Strahlen! Ich bin gespannt, wie Sie das dem Gericht erklären wollen!«
In wirklicher oder gespielter Empörung hoben und senkten sich ihre Brüste – wieder einmal hatten sich meine Augen verirrt. Oder wollte mich diese Großnichte bewußt irritieren?
»Was für ein Gericht?«
»Na, Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Sie damit durchkommen lasse. Nein, mein lieber Dr. Hoffmann. So leicht werde ich es Ihnen nicht machen, sich mein Geld unter den Nagel zu reißen. Ich werde ‚ nachweisen, daß Sie meinem Onkel vorsätzlich die richtige Behandlung vorenthalten und ihn mit Schmerzmitteln gefügig gemacht haben.
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