Department 19 – Die Mission
solltest du vielleicht anfangen, auf mich zu hören.«
Ihre Augen verengten sich.
Das hat weh getan, nicht wahr? Gut. Jetzt kannst du mich anbrüllen, und ich kann nach oben gehen, und wir müssen heute Abend nicht mehr miteinander reden.
»Ich vermisse ihn auch, Jamie«, sagte seine Mutter leise, und er zuckte zusammen, als wäre er von einem Insekt gestochen worden. »Ich vermisse ihn jeden einzelnen Tag.«
Jamie hatte einen riesigen Kloß im Hals, um den herum er seine Antwort herausquetschte. »Schön für dich«, sagte er. »Ich vermisse ihn nicht. Nicht eine Sekunde.«
Seine Mutter sah ihn an, und in ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen. »Das meinst du nicht ernst.«
»Glaub mir, ich meine es so, wie ich es sage. Er war ein Verräter, ein Verbrecher, und er hat unser Leben ruiniert.«
»Unser Leben ist nicht ruiniert. Wir haben immer noch uns.«
Jamie lachte auf. »Sicher. Und wie wunderbar wir beide doch zurechtkommen.«
Die Tränen flossen über, und seine Mutter senkte den Kopf, während sie über ihre Wangen liefen und zu Boden tropften. Jamie sah sie hilflos an.
Geh zu ihr. Geh zu ihr und umarme sie und sag ihr, dass du es nicht so gemeint hast.
Er wollte es, wollte nichts lieber, als sich neben sie zu knien und den Abgrund zwischen ihnen zu überbrücken, der sich seit jener Nacht, in der sein Vater gestorben war, stetig vergrößert hatte. Doch er konnte nicht. Stattdessen stand er wie erstarrt da und sah zu, wie seine Mutter weinte.
2
Die Sünden des Vaters
Am nächsten Morgen ging Jamie unter die Dusche, zog sich an und schlüpfte aus dem Haus, ohne seine Mutter gesehen zu haben. Er lief auf seiner üblichen Route durch die Siedlung, doch an der Abzweigung zu seiner Schule ging er geradeaus weiter durch das kleine Einkaufszentrum mit dem McDonald’s und dem DVD-Verleih, überquerte die mit Graffiti übersäte Eisenbahnbrücke voller Glasscherben und platt getretener Kaugummis, lief am Bahnhof mit den Fahrradständern vorbei und schlug den Weg hinunter zum Kanal ein. Er würde an diesem Tag nicht zur Schule gehen. Keine Chance.
Warum zum Henker hat sie sich so aufgeregt? Weil ich Dad nicht vermisse? Er war ein Verlierer. Sieht sie das denn nicht?
Jamie ballte wütend die Fäuste und stieg die Stufen zum Leinpfad hinunter. Hier verlief der Kanal über eine Strecke von mehr als anderthalb Kilometern schnurgerade, sodass Jamie jede sich nähernde Gefahr aus sicherer Entfernung erkennen konnte. Doch obwohl er die Augen offen hielt, sah er nur ein paar Spaziergänger, die ihre Hunde ausführten, und hin und wieder einen der Obdachlosen, die unter den niedrigen, den Kanal überquerenden Brücken Schutz gesucht hatten. Nach einer Weile begannen seine Gedanken zu wandern.
Er hätte niemals – und am allerwenigsten gegenüber seiner Mum – zugegeben, wie groß das Loch war, das der Tod seines Vaters in seinem Leben zurückgelassen hatte. Jamie liebte seine Mutter, liebte sie so sehr, dass er sich dafür hasste, wie er sie behandelte, und dafür, dass er sie von sich stieß, wenn sie ihn ganz offensichtlich brauchte und er alles war, was sie hatte. Doch er konnte nicht anders. Die Wut, die in ihm brannte, schrie nach Entladung, und seine Mutter war das einzige Ziel, das sich anbot.
Die Person, die es verdient hatte, das Ziel zu sein, lebte nicht mehr.
Sein Vater, dieser feige Verlierer von einem Vater, war mit ihm nach London gefahren, um Arsenal spielen zu sehen. Er hatte ihm das Schweizer Armeemesser geschenkt, das Jamie nicht mehr bei sich trug, weil er es nicht ertragen konnte, es in seiner Tasche zu spüren, er hatte ihn auf den Feldern hinter ihrem alten Haus mit seinem Luftgewehr schießen lassen, mit ihm ein Baumhaus gebaut und samstagmorgens mit ihm zusammen Zeichentrickfilme im Fernsehen geschaut. Dinge, die Jamies Mutter niemals tun würde, die er niemals mit ihr tun wollte . Dinge, die er mehr vermisste, als er jemals zugegeben hätte.
Jamie war wütend auf seinen Vater, weil er ihn und seine Mum alleingelassen hatte, weil er sie gezwungen hatte, aus dem alten Haus auszuziehen, das Jamie so sehr geliebt hatte. Er war wütend, weil er seine Freunde zurücklassen und in diese schreckliche Gegend hatte ziehen müssen.
Wütend wegen der Schadenfreude, die er in den Gesichtern der Schulhofschläger jeder neuen Schule zu sehen bekam, sobald das Getuschel einsetzte und sie begriffen, dass man ihnen das perfekte Opfer präsentiert hatte: einen hageren Neuankömmling, dessen
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