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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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Assistent wird aber gerade abgeführt, und er muß das Gewehr selbst laden!
    Die Wächter des Kaïden bringen ihn sofort in einen kleinen dunklen Raum — keine Zelle, aber so gut wie. Bevor der Wächter geht, zündet er noch eine Kerze an. Gerettet, vielleicht!
    Robert-Houdin macht sich an die Arbeit: zuerst kratzt er mit seinen Fingernägeln so viel Metallstaub von der Türklinke ab. wie er braucht. Dann kratzt er das untere Ende der Kerze ab und formt mit den Wachssplittern zwei kleine Kugeln, die er dann sorgfältig aushöhlt und mit dem Staub poliert, bis sie zum Verwechseln echt aussehen. Die eine Kugel — diejenige, die sein Leben retten soll — ist nun fertig. Die zweite muß er aber noch präparieren! Durch ein kleines Loch füllt er sie mit Speichel, beißt sich dann in den kleinen Finger und läßt einige Tropfen seines eigenen Blutes hineinfließen.
    Als der Muezzin in der Morgendämmerung zum Gebet ruft, poliert er noch einmal die beiden Kugeln. Dann führt ihn der Wächter zum Minarett.
     
    Die ganze Stadt hat sich vor der Moschee versammelt — denn so oder so wird etwas passieren: Unglaubliches oder Schreckliches — ein neues Wunder oder eine verdiente, tödliche Strafe. Noch nie war es in einer Oase so still, als der Franzose zum Minarett schreitet, wo der Marabut schon auf ihn wartet.
    Er verbeugt sich vor dem zum Tode Verurteilten und reicht ihm, so wie gestern, zwei Gewehre zur Auswahl. Damit hatte Robert-Houdin gerechnet! Und er nimmt beide Gewehre!
    »Für den Fall, daß du daneben schießt!«
    Eine Beleidigung für den Marabut! Um seine Überlegenheit zur Schau zu stellen, bittet er den Zauberer großzügig, er möge doch die Gewehre selbst laden mit den Kugeln, die auf einem Kupfertablett bereit liegen.
    Jetzt ist es nur noch ein Kinderspiel für den Meister der Magie. Er lädt beide Gewehre, legt sie vor den Marabut hin und geht majestätisch zehn Schritte zurück, wie bei jeder Vorstellung.
    Der Marabut zögert nicht lange. Er nimmt eine Waffe, zielt und schießt.
    Mit theatralischer Geste holt Robert-Houdin die echte Kugel, die er beim Laden unter seiner Zunge versteckt hatte, aus seinem Mund heraus, tritt zu dem erstarrten
    Marabut, nimmt wortlos das zweite Gewehr, zielt auf die Mauer hinter dem degradierten heiligen Priester, schießt und sagt:
    »Schau hin! Du konntest mich nicht einmal verletzen, ich verletze sogar deine Steine!«
     
    Es war nur ein ganz kleiner roter Fleck an der Mauer des Minaretts von Gardaja. Aber er hat Geschichte gemacht. Die endgültige Eroberung von Algerien verdankte Frankreich einem Zaubertrick, einer Illusion!
    Heute wissen wir es — sie war auch nur eine Illusion!
     

Undichte Stellen im Kriegsministerium
     
    Ein neblig-trüber Novembervormittag in Paris im Jahre 1952.
    Der Colonel Hatz sitzt muffig in seinem Büro im Kriegsministerium und stopft mit einem kleinen Taschenmesser seine Pfeife so sorgfältig, als handele es sich um die Ausarbeitung eines strategischen Plans von höchster Bedeutung für die Sicherheit des Staates.
    Seit zwei Minuten steht ein Mann vor seinem Schreibtisch — stumm und stramm — wie es den Gepflogenheiten der militärischen Hierarchie entspricht. Er wartet geduldig, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl darauf, daß ihn der strenge ehemalige Kavallerie-Offizier anspricht. Es kann allerdings länger dauern. Denn im Augenblick scheint für den Colonel nichts auf der Welt wichtiger zu sein als seine Pfeife.
    Doch endlich blickt er auf und fragt nicht sonderlich interessiert:
    »Ach, Sie sind es! Nun, etwas Neues?«
    »Etwas, ja, leider. Es geht weiter!«
    Die Art und Weise, wie der Colonel flucht, läßt sehr zu wünschen übrig — immerhin ist er Oberst — aber er bewahrt wenigstens Haltung. Er zischelt nur seinen Ärger zwischen den dünnen Lippen hervor, doch mit tadelloser Selbstbeherrschung, was seiner Aussage noch mehr Gewicht verleiht. Der Untergebene überhört die ausschweifenden Ausdrücke und wartet auf Anweisungen: »Haben Sie darüber einen Bericht geschrieben?«
    »Ja, selbstverständlich. Hier!«
    Der junge Verwaltungsbeamte — ein Aktenmensch wie er im Buche steht — übergibt ihm ein Blatt Papier, ganz dicht mit Maschinenschrift bedruckt. Der Colonel verlangt immer solche Berichte, obwohl er sie niemals liest — wie jeder weiß.
    Also fragt der junge Mann geschickt:
    »Mon colonel, soll ich zusammenfassen?«
    »Ja. Tun Sie das! Aber fassen Sie sich kurz!«
    »Also folgendes: Ich hatte den verschiedenen

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