Depesche aus dem Jenseits
ist das keine Musik — es ist nur Krach, ein fürchterlicher, unerträglicher Krach.
Für heute ist es einfach genug — morgen ist auch noch ein Tag. Zwar drängt die Zeit, aber in seinem Kopf dröhnt und trommelt es so sehr, daß er alles stehen und liegen läßt und direkt ins Schlafzimmer marschiert — gerädert wie ein Soldat nach einer heißen Schlacht.
Am nächsten Morgen, noch schlaftrunken, torkelt er sofort zum Plattenspieler und legt den ersten Marsch des vierten Kampftages auf. Das macht ihn gleich munter! Schon nach dreißig Sekunden fegt er zornig alle Platten vom Tisch, zieht wahllos die Klamotten an, die verstreut auf dem Boden zwischen den Plattenhüllen herumliegen und huscht aus dem Haus. Hoffentlich begegnet er niemandem.
Er ist erst vor einer Woche hier eingezogen und er hat nicht vor, lange zu bleiben. Nur solange bis er mit seiner Arbeit fertig ist. Aber trotzdem — es wäre ihm sehr peinlich, jemandem von den bestimmt sehr verärgerten Hausbewohnern zu begegnen. Selbstverständlich wissen alle im Haus, wer der neue Mieter ist, und sie denken nicht daran, sich über die wirklich sehr laute, martialische Musik zu beschweren. Ganz im Gegenteil — sie hören sehr interessiert zu. Malcolm Arnold ist nämlich ein berühmter Musiker und es hat sich schnell herumgesprochen, daß er jetzt im Haus wohnt. Man ist stolz darauf. Das ist es aber gerade, was ihn so wahnsinnig macht: Malcolm Arnold schämt sich! Sein guter Ruf als Komponist steht auf dem Spiel.
Nach zwei Stunden kommt er zurück, voll beladen mit neuen Schallplatten und alten Tonbändern. Es muß doch etwas Brauchbares dabei sein!
Erste Platte — nichts. Zweite Platte — zum Einschlafen. Dritte — zum Heulen. Die zehnte ist zum Davonlaufen, aber bestimmt nicht im Gleichschritt, siegesbewußt, tapfer und munter. Die zwanzigste Platte zertrampelt Malcolm Arnold schließlich haßerfüllt und voller Verachtung für diese billige Musik, für diese ohrenbetäubenden Fanfaren, diese Pfeifen und Trommeln und für das blöde Gesinge dazu!
Am fünften Morgen macht er sich wieder schleppend auf den Weg zu allen Musikgeschäften in der Stadt. Er muß sich seine tägliche Ration beschaffen.
Die Verkäufer warten schon auf ihn. Seit drei Tagen setzen sie Himmel und Hölle in Bewegung, denn jeder will derjenige sein, der das Richtige für den berühmten Kunden ausfindig macht. Das ist Ehrensache!
»Mister Arnold! Einen schönen guten Morgen! Heute haben Sie endlich Glück! Unser Bote hat mir im Augenblick diese Aufnahme hier für Sie gebracht... einmalig! Genau das, was Sie suchen! Wollen Sie hineinhören?«
»Jetzt nicht. Vielen Dank! Ich hab’s eilig! Also, bis morgen...«
Malcolm Arnold ist nicht gerade optimistisch! Im Grunde hat er schon längst jegliche Hoffnung aufgegeben, das Passende zu finden. Aber er hat nun mal den Auftrag angenommen. Vielleicht geschieht noch ein Wunder. Immerhin hat er noch zwei Tage Zeit.
»Mister Arnold, ich warte schon auf Sie! Ich kann Ihnen nachempfinden, wie Sie sich fühlen. Ich habe mir auch die ganze Nacht mit Militärmärschen um die Ohren geschlagen, aber es hat sich gelohnt! Schauen Sie, was ich in unserem Zentralarchiv entdeckt habe! Die Nationalhymne des ehemaligen Litauen. Völlig unbekannt! Tapfer und munter!«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen. Danke!«
Und weiter geht’s zum nächsten Geschäft:
»Da sind Sie ja! Hier, der Marsch des Sechsten Schottischen Regiments! Das ist es! Das wird ein Knüller, das sag’ ich Ihnen!«
»Wir wollen’s hoffen! Vielen Dank auch, bis dann...« Gegen Mittag ist Malcolm Arnold wieder zu Hause. Material hat er nun genug! Überall in der Wohnung liegen Berge von Platten, Tonbändern und Partituren. Hier ein Stapel Fanfaren mit Chören, da ein Haufen Chöre ohne Fanfaren, im Flur — schön der Reihe nach aufgestellt und geographisch geordnet — die bunteste Auswahl an Militärmärschen, die man sich vorstellen kann.
Und wieder tönt ein Marsch nach dem anderen durchs ganze Haus — zwei Tage lang. Ein Alptraum das Ganze. Allmählich auch für die Nachbarn.
Am siebten Tag ist Malcolm fertig. Völlig fertig. Wie verabredet, ruft er seinen Freund und Auftraggeber an — David Lean.
»Hallo David! Ich bin soweit.«
»Hast du etwas gefunden?! Toll! Ich bin gespannt!«
»Tja, weißt du, ich hab’ schon was da, aber...«
»Du klingst nicht sehr überzeugt?«
»Och, ich weiß nicht. Ich kann einfach nicht mehr, David! Ich hab’ soviel Mist die
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