Depesche aus dem Jenseits
Kauderwelsch da drüben! Ich lebe von der Hand in den Mund, immer haarscharf am Gesetz vorbei, immer mit den Brüdern im Rücken! Ein Wunder, daß ich mich überhaupt ein Jahr lang durchschlagen konnte, ohne eine Dummheit zu machen! Aber irgendwann mußte es ja passieren!
Ich bin mit drei guten Freunden abgehauen. Wir wollten unbedingt so weit weg wie möglich — an die Westküste, quer durch Amerika! Aber dann, mitten in Texas — Peng! Da lassen mich die drei ohne einen Cent stehen, weil ich bei einer krummen Sache nicht mitmachen will! Ja, ja, ich war schon immer ein anständiger Kerl, blöd, was? Ich hab’ schon versucht, ein paar Dollar auf ehrliche Weise zu verdienen, irgendwie mußte ich ja leben und sparen wollte ich auch noch! Für die Weiterreise nach dem Westen, verstehen Sie? Aber meine guten Freunde haben mir einen Strich durch die Rechnung gemacht! Sie haben mich verpfiffen und ich mußte verduften! Da hab’ ich zum erstenmal den Kopf verloren — ich habe ein Auto gestohlen, das heißt, ich wollte es mir eigentlich nur kurz ausleihen. Ich hatte nicht einmal genug Geld für Benzin und hätte das Ding sowieso stehen lassen. Eine halbe Stunde läuft alles bestens. Eine halbe Stunde, hören Sie? Keine Minute länger. Da taucht auf einmal ein Polizist mitten auf der Landstraße auf... 100 Meter vor mir, und will mich anhalten! Was mache ich? Ich gebe Gas! Ich dachte, der springt im letzten Augenblick zur Seite, aber nein! Ich war an einen heldenhaften Polizisten geraten, den einzigen, den ich jemals auf meinem Weg getroffen habe! Der bleibt tatsächlich stehen wie ein Denkmal, ich versuche noch zu bremsen — zu spät. Ich habe ihn überfahren, er war auf der Stelle tot! Ja, ich hatte einen Polizisten getötet. Als seine Kollegen am Tatort eintrafen, kniete ich noch neben ihm. Ich habe geheult wie ein Schloßhund. Ein schöner Anfang für ein neues bürgerliches Leben, nicht wahr? Aus der Traum, und ich lernte Texas kennen. Die Hölle!«
Jean Primo legt eine Pause ein. Er weiß um die Wirkung eines solchen Geständnisses bei zwei hohen Polizeibeamten. Und erwartet auf die Entrüstung, die kommen muß. »Sie haben einen amerikanischen Polizisten getötet und Sie sind hier in Marseille? Da haben Sie aber verdammtes Glück gehabt!«
»Wie man’s nimmt! Die texanischen Richter haben kurzen Prozeß mit mir gemacht, und ich bekam lebenslänglich. Sie hatten es so eilig, mich für den Rest meines Lebens hinter Gitter zu bringen, sie haben nicht einmal gemerkt, daß ich weder Douglas Griffith, noch Amerikaner war! Ich habe es auch niemandem erzählt. Wozu auch? Mir war mittlerweile alles gleichgültig. Seit zwanzig Jahren war ich auf der Flucht — nun konnte ich mich ausruhen, bis ich sterbe!«
Der INTERPOL-Beamte schweigt. Er weiß, was jetzt kommt. Kommissar Viaud hingegen hat keine Ahnung und fragt ungläubig:
»Sind Sie aus dem Gefängnis getürmt?«
»Nein. Leider nicht! Ich bin ganz offiziell entlassen worden!«
»Warum leider?«
»Herr Kommissar, das ist wiederum eine sehr, sehr lange Geschichte. Also: Mein Anwalt war ein ganz junger Kerl, hatte kaum Berufserfahrung. Ich war sozusagen sein erster Fall, er war mein Pflichtverteidiger. Ich konnte mir ja keinen Rechtsbeistand leisten. Nun, es wurmte ihn sehr, diesen Prozeß so glatt verloren zu haben! Und außerdem war ich ihm sympathisch, sagte er! Er besuchte mich ab und zu im Gefängnis. Eines Tages, nach etwa zwei Jahren, erzählte ich ihm von meinem Leben, von meinem europäischen Leben. Da sprang er auf — er war außer sich vor Freude! Und er brüllte mich an: >Douglas, um Gottes willen, warum haben Sie mir das Ganze verschwiegen! Das ist vielleicht Ihre Rettung! Ich glaube, jetzt weiß ich, wie ich Sie herausholen kann! Wir beantragen eine neue Verhandlung. Das hier sind handfeste Indizien! Die Staatsanwaltschaft muß mit einem neuen Prozeß einverstanden sein!<
Und ich erzählte ihm alles, aber auch alles. Er machte sich ganz aufgeregt Notizen, er lachte und klopfte mir auf die Schulter: >Toll, Douglas, weiter! Die werden Augen machen! Das ist ja nicht zu fassen! Sie sind mir schon einer!< Ich dachte, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Eine Zeitlang hörte ich dann nichts mehr von ihm. Aber er kam doch wieder, und dieses Mal war er sehr ernst. Er klärte mich über meine juristische Lage auf: >Douglas, es ist so: Nach amerikanischem Recht haben Sie, bevor Sie den Polizisten überfahren haben, ein viel schwerwiegenderes Verbrechen
Weitere Kostenlose Bücher