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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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wiederholt sich pausenlos bis 1940! Kaum verläßt Jean Primo ein Gefängnis, schon kommt er ins nächste. Er macht die Runde durch ganz Frankreich — zwölf Jahre lang! Bis der Krieg in ganz Europa wütet. Da hat er endlich seine Ruhe! Ironie des Schicksals! Jetzt haben es die Behörden mit ganz anderen illegalen Einreisenden zu tun.
    Kommissar Viaud und der Interpolbeamte hören betroffen zu — und schweigen.
    »Was ist? Was sagen Sie nun? Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht? Man wollte mich nicht einmal als Soldat haben! Und ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, für welches Vaterland ich hätte kämpfen sollen! Ich hatte die Nase voll von Europa! Und als es zusammenbrach, war mir das ganz egal. Zum erstenmal seit achtzehn Jahren war ich ein freier Mann! Ohne Papiere — aber ich war nicht der einzige! Ich beschloß ein neues Leben anzufangen und bin nach Amerika ausgewandert! Als blinder Passagier, aber dieses Mal hat mich keiner entdeckt. Ich hatte ja langsam Übung in der Sache!
    Am 6. August 1940 habe ich aus meinem Versteck der Freiheitsstatue in New York zugewinkt. Das war vor achtzehn Jahren! Und heute sitze ich wieder hier in Marseille vor der Polizei, genauso wie 1925, immer noch ohne Papiere! Nur eine Kleinigkeit hat sich geändert: Ich bin nicht mehr Jean Primo. Ich bin Douglas Griffith! Was ich alles erlebt habe, seitdem ich mir diesen Namen zugelegt habe — damals, als ich in New York an Land ging — , das würden Sie mir nicht glauben, wenn die ganze Weltpresse darüber nicht berichtet hätte!«
    Am 6. August 1940 also läuft ein Ozeandampfer in den New Yorker Hafen ein. An Bord — viele europäische Emigranten und ein blinder Passagier: Jean Primo. Aus seinem Versteck winkt er der Freiheitsstatue zu. Geschafft! Hier im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten wird er ein neues Leben anfangen — ein freies Leben. Mit 33 Jahren ist noch alles möglich, selbst für einen Mann, der niemals Papiere hatte und deswegen achtzehn Jahre lang im alten Europa die denkbar schlechtesten Erfahrungen mit der Polizei machte. Aber nun gehört all das der Vergangenheit an...
    In New York läßt sich Jean Primo viel Zeit, bevor er an Land geht. Jetzt kommt es wirklich auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an. Bis hierher ist alles gutgegangen — aber nun muß er höllisch aufpassen. Denn bei der Flut von Immigranten prüft die amerikanische Hafenpolizei jeden Einreisenden besonders gründlich. Und Jean hat nach wie vor keinen Paß. Und anders als die meisten Flüchtlinge aus Europa, kann er nicht einmal um politisches Asyl bitten. Vielleicht wäre das der einfachste Weg, aber er kann es nicht riskieren. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber immerhin doch möglich, daß sein Name auch hier auf der schwarzen Liste steht.
    Also wartet er, bis sich die Menge am Kai verzogen hat und schleicht erst dann von Bord. Es ist mitten in der Nacht, als er im Gewühl des Hafenviertels untertaucht. Für Jean Primo ist es kein Problem, bald an die Leute heranzukommen, die hier — wie in allen Häfen der Welt — mit falschen Papieren handeln. Hat man genügend Geld, ist es 1940 in New York ein Kinderspiel, eine neue Identität zu erwerben.
    Hat man keins, so ist das nicht tragisch: Man bekommt auch einen neuen Namen mit allen dazugehörigen Ausweisen und Scheinen — und dafür muß man sich nur erkenntlich zeigen und der großen Familie der Unterwelt niemals untreu werden! Nachwuchs ist immer willkommen, das heißt, wenn das neuaufgenommene Mitglied auch spurt. Jean Primo hat keine andere Wahl. Von nun an heißt er also Douglas Griffith und ist — zumindest auf dem Papier — ein waschechter Amerikaner.
    1958 erzählt Jean Primo, alias Douglas Griffith, schon seit zwei Stunden die Geschichte seines irrsinnigen Lebens bei der Hafenpolizei in Marseille. Kommissar Viaud und der Leider des Generalsekretariats von INTERPOL unterbrechen ihn kaum — sie sind sprachlos. Und wenn sie zwischendurch dem mittlerweile Fünfzigjährigen eine Frage stellen, dann nur aus Verlegenheit. So zum Beispiel:
    »Nun, Sie hatten endlich einen Namen und Papiere. Was ist schiefgelaufen?«
    »Das fragen Sie mich? Sie, ein hohes Tier von INTERPOL? Soll ich Sie vielleicht aufklären, wie es in der Unterwelt zugeht? Glauben Sie im Ernst, die Brüder hätten mir aus Barmherzigkeit Papiere verschafft?«
    »Nein, das nicht, aber...«
    »Was >aber