Depesche aus dem Jenseits
fragt er entrüstet, wie es sich für einen Schotten gehört.
»Doch. Wasser ist erfrischend.«
»Erfrischend? Ja, mag schon sein. Aber Sie werden gleich etwas Stärkeres brauchen, lieber Freund!«
Und er bestellt zwei doppelte Whiskys.
»Die Polizei von Hongkong hat mich über Sie genauestem informiert. Ja, ich weiß Bescheid! Und ich wette, daß man Sie in Macao niemals an Land gehen lassen wird!«
»Warum!!?«
»Die Polizei in Hongkong hat uns beide hinters Licht geführt! Das weiß ich genau. Wissen Sie, es ist so: in Macao sitzen einige Engländer, und Hongkong möchte sie nun mal sehr gerne wieder haben. Wenn sie nämlich zu viel reden, könnte es für ein paar hohe britische Beamte in Hongkong brenzlig werden. Auf der anderen Seite, also in Macao, sind die Behörden bemüht um bessere Beziehungen zu INTERPOL und den Vereinigten Staaten. Das Ganze ist ein wenig kompliziert, hier herrschen nun mal andere Gesetze! Man arrangiert sich, eine Hand wäscht die andere, verstehen Sie? Haben Sie sich nicht gewundert, daß INTERPOL in Hongkong nichts gegen Sie unternommen hat? Alle stecken unter einem Hut! Die britische Polizei schickt Sie nach Macao, INTERPOL ist damit einverstanden, selbstverständlich! Dort gehen sie unbehelligt an Land, werden aber sofort festgenommen und den Amerikanern ausgeliefert. Dafür kommen die Engländer aus dem Gefängnis, und INTERPOL drückt in Macao eine Weile alle beide Augen zu. Verstehen Sie nun, was hier gespielt wird?«
»Ja. Das heißt, nein. Sie sagten doch vorhin, ich dürfte in Macao bestimmt nicht an Land gehen.«
»Stimmt. Das weiß ich. Aber nicht die Polizei von Hongkong. Und INTERPOL auch nicht. Sie hoffen nur, daß es klappt — aber sie täuschen sich. Sie sind nicht wichtig genug für einen Tausch. Was haben Sie schon verbrochen, heh? Kein Mensch interessiert sich in Macao für den texanischen Polizisten, den Sie überfahren haben. Sie sind nur wichtig, wenn Sie nicht an Land gehen dürfen, damit kann man INTERPOL in Macao unter Druck setzen.«
Der Kapitän hatte leider recht. In Macao durfte Jean Primo nicht an Land und er fährt auf der Tailoy nach Hongkong zurück. Dort darf er das Schiff ebenfalls nicht verlassen — also wieder Richtung Macao. Und so pendelt er zwischen den beiden berüchtigten Hafenstädten hin und her. Legt das Schiff an, wird Jean Primo lediglich gestattet, von der Kommandobrücke aus mit dem türkischen oder mit dem französischen Konsul ein paar Worte zu wechseln. Aber wie nicht anders zu erwarten, sind die völlig machtlos.
Bei der fünfzehnten Fahrt läßt der Kapitän Jean Primo kleinere Arbeiten an Bord verrichten — der Mann tut ihm allmählich leid.
Bei der fünfzigsten Überfahrt der Bucht von Canton ist Jean Primo die Touristenattraktion! Er wird von allen Seiten photographiert, es fehlt nur noch, daß man ihm Erdnüsse zuwirft! Bei der 100. Fahrt steht sein Bild in allen Zeitungen von Hongkong und Macao. Als er seine 300. Reise antritt, geht seine Geschichte durch die Weltpresse. Überall, von Amerika bis in die Türkei, von Frankreich bis hin nach Japan empört sich jeder über das irrsinnige Schicksal des einstigen Findelkindes aus Istanbul. Jean Primo wird in den höchsten Regierungskreisen rings um die Welt, ja sogar im Vatikan, zum Gesprächsthema Nummer eins. Der Wahnsinn muß aufhören! Aber wie? Wer gibt nach? Wer macht den ersten Schritt? Niemand. Also pendelt der »Mann von Nirgendwo« nach wie vor auf der Tailoy zwischen Hongkong und Macao hin und her.
Auf seiner 540. Überfahrt bricht Jean Primo zusammen. Und der Kapitän entschließt sich, selbst etwas zu unternehmen. Allein gegen die Welt sozusagen. Er schmuggelt Primo auf eine Dschunke, die ihn zu einem portugiesischen Tanker auf offener See bringen soll. Und am nächsten Tag erklärt er der Presse, Jean Primo sei von Bord gesprungen und ertrunken.
Niemand nimmt es ihm ab — aber niemand kann beweisen, daß es nicht stimmt. Die Jagd auf Jean Primo geht also weiter. Doch jahrelang taucht er nirgendwo mehr auf, und langsam ist INTERPOL davon überzeugt, er sei tatsächlich im Südchinesischen Meer von den Fischen aufgefressen worden...
Aber Jean Primo ist nicht so leicht unterzukriegen. Jahre später taucht er wieder auf. Er denkt, nun ist bestimmt genug Gras über die Sache gewachsen und er geht an Land. In Marseille — wie damals schon, 1925. Ein Ausweisungsbefehl gerät aber nicht so schnell in Vergessenheit. Nicht einmal nach 33 Jahren.
Und so
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