Depesche aus dem Jenseits
aufgenommen. Eltern: unbekannt. Geburtsort: unbekannt. Geburtsdatum: unbekannt. Geschlecht: männlich. Alter: sechs Monate bis ein Jahr. Religion: katholisch, im Kloster getauft. Name: Jean Primo.«
In den folgenden 15 Jahren wird kein Kind in Istanbul vermißt — Jean Primo wächst bei den Schwestern auf, streng katholisch versteht sich und wird in bester französischer Tradition erzogen.
Eines Tages im Jahre 1922 schlendert Jean an seinem Ausgehnachmittag den Hafen entlang und bleibt auf einmal wie angewurzelt vor einem traumhaft schönen Segelschiff — einem Dreimaster — stehen. Wie gesagt, der Junge ist mittlerweile 15 Jahre alt und plötzlich überfällt ihn eine unbändige Abenteuerlust. Die See ruft... Anstatt zum Kloster zurückzukehren schleicht er sich an Bord, ohne sich dabei viel zu denken — und vor allem, ohne Papiere!
Erst auf hoher See wird er von der Mannschaft entdeckt. Der Kapitän zeigt großes Verständnis für den jungen blinden Passagier. Er kann sich lebhaft vorstellen, daß ein halbwüchsiger Junge viel lieber mit kernigen Matrosen die Welt entdecken möchte, als weiterhin mit den lieben, aber strengen Ordensschwestern zu leben. Das ist doch nichts für einen Mann! Jean wird gleich als Schiffsjunge angeheuert und kreuzt nun quer durchs Mittelmeer. Drei Jahre lang! Eine herrliche Zeit. Nur eines darf er nicht: An Land gehen. Der Kapitän will keine Schwierigkeiten mit den Hafenbehörden bekommen. Vielleicht haben die Nonnen den Jungen als vermißt gemeldet, nicht nur bei den türkischen Behörden, auch bei den französischen. Und die verstehen keinen Spaß, besonders jetzt nicht, nach dem Ersten Weltkrieg! Die Beziehungen zwischen Frankreich und der Türkei sind nicht die besten. Aber selbst dann, wenn sich keiner um das Verschwinden des Jungen Gedanken macht — blinde Passagiere ohne Papiere müssen sofort beim nächsten Einlaufhafen ausgebootet werden. Der Kapitän mag aber den Jungen, und die Mannschaft auch. Alle halten dicht. Wirklich eine herrliche Zeit nach dem Klosterleben!
1925 ist Jean Primo vermutlich 18 Jahre alt und er träumt davon, endlich ein Vollblutmatrose zu werden. Er will auf einem großen Passagierdampfer anheuern, denn das Mittelmeer kennt er in- und auswendig. Als sein Segelschiff eines Tages in Marseille Anker wirft, nimmt er Abschied vom Kapitän und von seinen Freunden: »Macht euch keine Sorgen um mich... ich wollte schon immer nach Frankreich. Jetzt bin ich 18, ich muß allein zurechtkommen, und ich will endlich Papiere haben! Ich brauche welche! Ich kann mich doch nicht mein Leben lang verstecken! Ahoi! Wir sehen uns bestimmt wieder!«
Zum erstenmal seit drei Jahren geht Jean Primo also an Land und begibt sich in Marseille direkt zum türkischen Konsulat. Dort bekommt er sicher einen Personalausweis.
»Wie kamen Sie auf diese Idee?« möchte der Interpol-Kommissar wissen. »Sie sagten doch vorhin, daß die Türken, damals als Sie vor dem Kloster ausgesetzt wurden, Sie nicht registriert hatten.«
»Ja, das stimmt. Aber ich hatte keine andere Wahl. Nach meiner Flucht aus dem Kloster habe ich mehrmals der Oberin geschrieben. Irgendwie mochte ich sie gut leiden! In meinem ersten Brief wollte ich sie also beruhigen, sie sollte wissen, daß es mir gut geht. Später habe ich sie mehrmals darum gebeten, mir eine Bescheinigung zu schicken, über Umwege, versteht sich! Aber sie weigerte sich, mit der fadenscheinigen Begründung, ich hätte das Kloster unerlaubt vor Eintritt meiner Volljährigkeit verlassen. Mir bleiben also nur die Türken! Ich dachte, das Konsulat würde Nachforschungen anstellen und in Anbetracht der Tatsache, daß ich wahrscheinlich in Istanbul geboren wurde und bis zu meinem 15. Lebensjahr dort gelebt habe — da würde man mir eben einen türkischen Ausweis ausstellen. Es dauerte sehr lang mit den Erkundigungen zwischen Marseille und Istanbul, aber am Ende bekam ich doch so etwas Ähnliches wie einen Ausweis. Ich galt als Immigrant unbekannter Herkunft mit Aufenthaltsgenehmigung. Ein richtiger Türke war ich also nicht, aber das war mir egal. Ich hatte endlich Papiere in der Hand! Mehr brauchte ich nicht. Damit konnte ich anheuern — und auch die französische Staatsangehörigkeit beantragen.«
Jean Primo seufzt bei dem Gedanken. Er hätte damals so viel darum gegeben, Franzose werden zu können. Und er unternahm auch alle erdenklichen Schritte — wie verworren seine Lage auch war um diesen Traum zu verwirklichen. Aber auf seine
Weitere Kostenlose Bücher