Depesche aus dem Jenseits
Lokomotiven gäbe es keine Züge... sozusagen.«
»Wie Sie meinen! In Allessandria finden Sie bestimmt, was Sie suchen, ob Züge oder Lokomotiven!«
Allmählich fragt sich der Schaffner, ob der vornehme Herr noch alle Sinne beisammen hat. Als er ihm das Wechselgeld in die Hand drücken will, wird der Mann sogar sehr ärgerlich:
»Nein! Behalten Sie es ruhig! Für Umwege muß man bezahlen! Das macht den Wert der Reise aus!«
»Aber ich darf es nicht behalten! Das ist gegen die Vorschrift!«
»Vorschriften sind schuld daran, daß die Menschen direkt zum Ziel wollen, ohne zu reisen. Und die Reise ist das Leben... sozusagen. Vorschriften sind tödlich!«
Die Fahrgäste, die in den ersten Reihen sitzen, lauschen diesem skurrilen Gespräch mit gemischten Gefühlen: Die einen ärgerlich, andere amüsiert, einige etwas beunruhigt, ja sogar verängstigt, wie die junge Frau, die neben dem Fahrer Platz genommen hatte und jetzt ganz nach hinten flüchtet.
»Oh, sehr freundlich von Ihnen, liebes Fräulein!« Endlich setzt sich der Mann hin, neben den Fahrer, und gibt Ruhe. Er strahlt über das ganze Gesicht, schaut entzückt vor sich hin, wie ein Kind, das zum ersten Mal in das Cockpit eines Jumbos darf. Ab und zu wirft der Fahrer einen flüchtigen Blick auf den Sonderling. »Bei ihm ist eine Schraube locker, aber gefährlich sieht er nicht aus.« Und nach einer Weile fragt er ihn:
»Warum sind Sie denn nicht gleich mit dem Zug nach Mailand gefahren?«
»Weil es keine Rolle spielt, wohin man fährt, finden Sie nicht auch?«
»Vielleicht, aber Sie wollen nach Mailand, und wir fahren nach Allessandria!«
»Es spielt auch keine Rolle, wie man fährt. Jeder kommt eines Tages nach Mailand. Früher oder später.«
Nach dieser tiefsinnigen Feststellung lehnt sich der Mann zurück, schließt die Augen und gibt damit zu verstehen, man möge ihn nicht mit dummen Fragen belästigen. Während der ganzen Fahrt spricht er kein Wort mehr.
In Allessandria steigt er als erster aus und eilt direkt in das Restaurant:
»Zwei Kaffee, bitte!«
Der Ober wundert sich nicht. Warum auch? Der Mann bestellt gleich auch für seine Frau, die sich jetzt gerade wahrscheinlich die Nase pudert.
Als er an den Tisch zurückkommt mit den zwei Tassen, steht der Mann abrupt auf, nimmt einen Kaffee von dem Tablett und schluckt ihn mit einem Zug hinunter. Dann setzt er sich wieder:
»Meinen ersten Kaffee mußte ich stehen lassen, verstehen Sie? Es fehlte mir einer. Man soll immer nachholen, was man versäumt hat.«
Gleichgültig stellt der Ober die zweite Tasse auf den Tisch.
»Verstehen Sie mich? Man erlebt jeden Tag viele ärgerliche, kleine Zwischenfälle. Aber sie haben keine Bedeutung, finden Sie nicht auch? Zwischenfälle haben nur die Bedeutung, die man ihnen selber gibt, sozusagen. Hätten Sie die Freundlichkeit, mir zu sagen, wo ich hier eine Lokomotive finden kann?«
»Mann, Sie haben aber ganz schön getankt heute!«
»Sie verstehen mich nicht! Ich will nach Mailand und brauche nur eine Lokomotive.«
»Bei Ihnen tickt’s wohl nicht richtig, was?«
Am Tisch nebenan empört sich eine Frau über die Impertinenz der Bedienung:
»Diese jungen Leute, die haben überhaupt keinen Respekt. Es ist eine Schande!«
»Gnädige Frau, Respekt ist keine lebenswichtige Tugend. Respekt hindert den Menschen nur daran, frei zu sein, finden Sie nicht auch? Wissen Sie vielleicht, wo die Lokomotiven hier sind?«
»Auf dem Bahnhof, nehme ich an!«
»Ach ja, wahrscheinlich... Und wo ist der Bahnhof?«
»Direkt gegenüber.«
»Dort fahren aber die Züge ab! Wo sind die Lokomotiven?«
»Sie sind ja total verrückt, der Ober hatte recht!«
»Sehen Sie, gnädige Frau, ohne Respekt ist man viel freier, finden Sie nicht auch?«
Nach dieser Belehrung verbeugt sich der Herr, verläßt das Lokal und geht zum Bahnhof. Aber plötzlich bleibt er stehen. Er zögert auf einmal: »Es ist zum Verrücktwerden, niemand will mich verstehen! Die Leute machen die Dinge immer fürchterlich kompliziert. Dabei ist alles so einfach: Ein Mann will nach Mailand fahren... mit einer Lokomotive, die er nur für kurze Zeit ausleihen will — und es geht nicht! Gut, wenn es so ist, dann frage ich niemanden mehr. Sonst erklärt man mir am Ende noch, daß die Lokomotiven dem Staat gehören, daß ich womöglich eine Sondererlaubnis vom Verkehrsministerium brauche, oder gar vom Innenministerium! Nein, nein... das mache ich lieber allein.«
Auf dem Bahnhofsgelände von Allessandria
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